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Warum eine wissenschaftliche Ausgabe von „Mein Kampf“ längst überfällig ist

Mit der kommentierten Ausgabe soll ein Gegengewicht zu den überall verfügbaren PDF-Versionen geschaffen werden.
Die ersten Seiten einer alten Ausgabe von Mein Kampf. Bild: Imago.

Die Urheberrechte an Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf" sind nach mehr als siebzig Jahren ausgelaufen. Zum ersten Mal erscheint in dieser Woche in Deutschland eine Neuauflage des Buchs. Die Ausgabe, die ab Freitag dem 8. Januar verkauft wird, ist wissenschaftlich kommentiert. Diese kritische Ausgabe sei „nicht nur für die Forschung ein dringendes Desiderat, sondern auch für eine aufgeklärte Geschichtskultur wichtig", sagte der Vorsitzende des deutschen Historikerverbandes Schulze-Wessel schon vor zwei Jahren. Angesichts der riesigen und kaum kontrollierbaren Content-Verbreitungsmaschine Internet kann sich ohnehin jeder mit wenigen Klicks „Mein Kampf" besorgen.

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Sucht man im Internet nach PDFs von „Mein Kampf" wird man sofort fündig. Wer Hitlers Propagandaschrift lesen will, findet sie auch digital. Vor allem in englischer Sprache, aber auch italienische, französische, spanische Übersetzungen finden wir bei einer Google-Suche sofort. Ohne VPN-Tools oder Proxy-Server zu nutzen, die unsere deutsche IP-Adresse verschleiern, tauchen zwanzig Links auf, die zu einem PDF von „Mein Kampf" führen. Auch eine unkommentierte Ausgabe in deutscher Sprache lässt sich problemlos finden. Eine PDF-Version meint sich selbst mit dem Menschenrecht legitimieren zu müssen, sich Informationen und Gedankengut beschaffen zu dürfen, andere stellen einen kurzen historischen Abriss voran. Hitlers Hetzschrift als PDF-Datei—ohne wissenschaftliche Einordnung, ohne Aufklärung und ohne Hinweise auf die sachlichen Fehler im Buch.

„Eine wissenschaftliche, seriöse Edition nutzt den Nazis eben nicht."

Die unkontrollierte digitale Verbreitung unkommentierter Ausgaben im Internet wollen die Behörden unterbinden. Gerade das Netz sieht das Bundeskriminalamt als einen der zentralen Verbreitungswege für rechte Ideologien. Es diene auch als „Propagandainstrument", schreibt das BKA auf Anfrage an Motherboard. Die Zahl rechtsextremer Angebote nehme im Netz stetig zu, heißt es weiter.

Nach dem Auslaufen der Urheberrechte stellt diese Woche das Institut für Zeitgeschichte in München seine wissenschaftlich kommentierte Ausgabe vor: „Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition". Mit knapp zweitausend Seiten und mehr als dreitausendfünfhundert Fußnoten ist das Buch keine leichte Abendlektüre.

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Ein Team aus mehreren Historikern hat sich jahrelang damit beschäftigt, Hintergründe zu liefern, die Quellen von Hitler zu ermitteln und sachliche Fehler offenzulegen. Der Teamleiter Christian Hartmann verglich im Interview mit der Welt seine Arbeit mit dem Kampfmittelräumdienst, nur dass er Relikte aus der Nazi-Zeit unschädlich mache. Es geht dem Institut vor allem um Transparenz und Aufklärung und darum, die Symbolkraft des Buches zu entkräften. Denn zweifellos haftet dem Buch durch die bislang verbotene Neuauflage ein gewisser Mythos an. Und genau darin sieht der Historiker Sven Felix Kellerhoff die Gefahr. Kellerhoff hat sich mit der Entstehung von „Mein Kampf" beschäftigt. Es habe sich bei anderen Veröffentlichungen schon gezeigt, dass eine wissenschaftliche seriöse Edition den Nazis eben nicht nutze, so Kellerhoff.

„Mein Kampf" besteht aus zwei Bänden. Hitler schrieb weite Teile des ersten Bandes nach seinem gescheiterten Putschversuch, während seiner Zeit im Gefängnis in Landsberg am Lech. Darin dreht es sich um Hitlers Werdegang, der „stilisiert sei", wie das Institut für Zeitgeschichte schreibt. Im zweiten Teil entwickelt Hitler die Programmatik für seine Partei, die NSDAP, mit der er als selbsternannter Führer die Deportation von Juden und Minderheiten veranlasste und Deutschland in den Zweiten Weltkrieg führte.

Die Urheberrechte lagen bislang beim Freistaat Bayern, denn bis zu seinem Tod war Adolf Hitler unter seiner Adresse in München mit Hauptwohnsitz gemeldet. Und so übertrug die US-Militärregierung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Rechte an „Mein Kampf" dem Bayerischen Finanzministerium. Und das hütete die Urheberrechte mit scharfem Blick.

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Sofort hatte sich das Bayerische Finanzministerium gewehrt, als im Jahr 2013 ein Historiker der Technischen Universität in Berlin ein PDF von „Mein Kampf" unkommentiert und unzensiert für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung stellte. Die TU musste das PDF wieder offline nehmen. Doch gegen die Verbreitung in englischer Sprache konnten die Bayern nichts tun. Die Rechte daran waren vom herausgebenden Verlagshaus lange vor 1945 an Verlage in den USA und Großbritannien verkauft worden.

Nach 70 Jahren und dem Auslaufen des Urheberrechts gibt es jetzt einen neuen juristischen Hebel.

Mehr als siebzig Jahre nach dem Tod von Hitler ist dieser Job für den Freistaat Bayern jetzt definitiv vorbei. Am 31.12.2015 endete die Schutzfrist für Adolf Hitler als Schriftsteller. Auch ohne Verlagsrechte oder Rücksprachen mit den Erben darf das Buch jetzt theoretisch von jedem gedruckt werden. Aber darf die Hetzschrift „Mein Kampf" einfach wieder als Neudruck auf den Markt?

Das wollen die Behörden verhindern—nicht mehr mit dem Urheberrecht, sondern mit einem anderen juristischen Hebel. Schon im Jahr 2014 haben sich die Justizminister der Länder beraten, wie nach Ablaufen des Urheberrechts mit der „menschenverachtenden Schrift" umzugehen sei, wie es in einem Dokument des Bayerischen Landtags steht. Laut dem Bundesjustizministerium plant man die Verbreitung des Buches ohne wissenschaftliche Einordnung mit dem Straftatbestand der Volksverhetzung zu unterbinden. Es gibt also kein spezielles Verbot von „Mein Kampf", erst die Gerichte werden bei Streitfällen zu entscheiden haben, ob man Neudrucke tatsächlich so verbieten kann. Damit ist es derzeit noch eine Art rechtliche Grauzone, denn bislang gibt es einen solchen Präzedenzfall nicht.

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Speziell für das Aufspüren und Verfolgen von Straftaten der rechten Szene im Internet haben die Polizeibehörden unter Beteiligung des Bundesverfassungsschutzes das „Forum Rechtsextremismus" gegründet. Wie die verantwortlichen Polizeibehörden in den Bundesländern dabei genau vorgehen, könne man aus kriminaltatktischen Gründen nicht offenlegen, teilte das Bundeskriminalamt mit.

Ein weiteres rechtliches Mittel, um die Verbreitung von digitalen Inhalten in Deutschland zu regeln, stellt dabei der Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) dar, mit dem in Kooperation mit Google Suchergebnisse eingeschränkt oder die Zugriffsmöglichkeit im Rahmen von Kinderschutzlisten in Routern geregelt werden.

Die verantwortliche Bundesprüfstelle bestätigte auf Rückfrage von Motherboard jedoch, dass „Mein Kampf" derzeit nicht auf ihrem Index stünde. Erst wenn eine andere Behörde in Deutschland sich an die Bundesprüfstelle wendet, kann diese aktiv werden. Ob eine Neuauflage von „Mein Kampf" dann auf den Index gehoben werden könnte, werde derzeit noch diskutiert, sagte Christian Meeser von der Bundesprüfstelle. Aufgrund von rechtlicher Fragestellungen läge ein abschließendes Ergebnis allerdings noch nicht vor.

„Ich habe keine Worte dafür. Das hätte ich mir nie träumen lassen, das es so etwas wieder geben kann."

Von den insgesamt viertausend zunächst erhältlichen Exemplaren der kritischen Edition sei schon ein großer Teil vorbestellt, sagte die Institutssprecherin Paulmichl gegenüber Motherboard. Bei Amazon ist das kommentierte Buch schon vor dem Erscheinen am 08.01.2016 ausverkauft. Bisher hatten Amazon und eBay das Buch zwar international auf ihren Websites im Angebot, aber aufgrund des vorher bestehenden Urheberrechts davon abgesehen, es nach Deutschland auszuliefern.

Auch an Schulen könnte das Buch als Lehrmittel zum Einsatz kommen: Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes Josef Kraus will nun Auszüge aus der kritischen Ausgabe von „Mein Kampf" in der Oberstufe auf den Lehrplan setzen.

Doch es gibt auch Vorbehalte gegen das Projekt des Instituts. Die Bayerische Staatsregierung entzog dem Institut für Zeitgeschichte ab Ende 2013 seine finanzielle Unterstützung. Unverständlich für die Öffentlichkeit und das Parlament, wie die Fraktion der Grünen in Bayern damals in einer schriftlichen Anfrage kritisierte. Laut der Stuttgarter Zeitung wollen viele Buchläden in Stuttgart das Buch nicht aktiv bewerben oder auslegen, man könne es aber natürlich auf Anfrage bestellen. Esther Bejarano, die ihre Deportation nach Ausschwitz überlebte, äußerte sich in einem Interview entsetzt über die Neuveröffentlichung des Buches: „Ich habe keine Worte dafür. Das hätte ich mir nie träumen lassen, das es so etwas wieder geben kann."

Update 7.1. 15:30: Wir haben den Text um eine Antwort der BPjM ergänzt.