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Der #WhyIStayed-Hashtag hat vor allem positive Seiten für Opfer von Gewalt

Mit ihm habe ich meine ersten Pillen eingeschmissen. Wir waren eins dieser nervigen Pärchen, in dessen Welt Außenstehender nicht eindringen konnten.

Illustrationen: James Burgess

Letzte Woche wurde ein Überwachungsvideo veröffentlicht, das zeigt, wie der (inzwischen) Ex-Footballspieler Ray Rice seine Verlobte Janay bewusstlos schlägt. Natürlich geriet Rice wegen dieses Vorfalls ins Kreuzfeuer der breiten Öffentlichkeit und wurde von der NFL auf unbestimmte Zeit suspendiert. Es wurde jedoch auch sehr viel darüber gesprochen, dass sich Janay für ihre Mitschuld an dem Ganzen entschuldigte, sie Ray dennoch heiratete und ihn seitdem auch weiterhin in Schutz nimmt.

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Als Außenstehender kann man Janays Verhalten kaum nachvollziehen. Deswegen haben im Laufe der letzten Woche viele Opfer von häuslicher Gewalt ihr Handy in die Hand genommen und bei Twitter mit dem Hashtag #WhyIStayed versucht, das emotionale Loch zu erklären, wegen dem es so schwer ist, aus einer gewalttätigen Beziehung auszubrechen. Im Jahr 2004 haben sich noch über 50% der Opfer einer gewalttätigen Beziehung zu sehr geschämt, um ihrem Freundeskreis oder ihrer Familie davon zu erzählen. Zehn Jahre später reden hunderte Leute darüber offen im Internet.

Because I moved to a foreign country with her and felt alone whenever I tried to move out. Time made me believe it was my fault. #WhyIStayed

— Travis Sullivan (@Pranabowjake) September 15, 2014

#whyistayed I didnt want my kids to be without their father #whyileft I didnt want my kids to be without me

— Tiffany Byrd (@Titi1211) September 10, 2014

Es wurde auch Kritik an dem Hashtag geübt, weil dieser den Fokus auf das Opfer und nicht auf den Täter lenkt. Aber eine Sache ist daran so bahnbrechend: Wir werden dazu gebracht, uns mit der Erfahrung der Opfer zu beschäftigen. Wann hatten wir schon mal wirklich die Gelegenheit, so viel über häusliche Gewalt zu erfahren, und zwar direkt von den Menschen, die ihr ausgeliefert waren? Die „Ratschläge“, die Chris Brown Ray Rice dieses Wochenende auf MTV mit auf den Weg gegeben hat, waren so was von unnötig. Halt die Fresse, Brown. Du solltest gerade jetzt lieber ganz still sein.

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Erst durch die Erfahrungsberichte aus erster Hand können wir die Übergriffe verstehen und verhindern. Ich kann jetzt nicht stellvertretend für Janay Rice oder jegliches andere Opfer von häuslicher Gewalt sprechen, aber bis Anfang 2014 befand auch ich mich in einer Beziehung, in der ich zweieinhalb Jahre emotional und körperlich misshandelt wurde. Ich weiß, warum ich meinen Partner zuerst nicht, später aber dann doch verließ.

Meiner Meinung nach habe ich meinen Ex-Freund nach dem ersten körperlichen Übergriff aus dem gleichen Grund nicht verlassen, aus dem auch Truman die Truman Show nicht hinter sich lässt, als dort ein Scheinwerfer vom Himmel fällt. Nach diesem Vorfall kommt Truman nicht sofort zu dem Schluss, dass sein ganzes Leben der Inhalt einer TV-Show ist und er sucht auch nicht gleich nach der ersten außergewöhnlichen Begebenheit einen Ausweg. Er gibt sich mit der Erklärung zufrieden, die ihm vertraute Mitmenschen liefern. Er passt seine Wahrnehmung der Realität einfach insofern an, dass komische, vom Himmel fallende Dinge normal sind, und lebt dann sein Leben weiter.

Illustrationen: James Burgess

Für mich kam die erste Handgreiflichkeit kurz vor unserem ersten Jahrestag genauso überraschend. Gewalttätige Menschen werden normalerweise erst dann gewalttätig, wenn sie sich sicher sind, dass ihr Partner sie dann trotzdem nicht verlässt—bei über 50 Prozent der Opfer passiert das Ganze erst im zweiten Jahr der Beziehung und oft bei der ersten Schwangerschaft. Bei mir geschah es ein paar Tage, nachdem wir zusammengezogen waren. Wenn es losgeht, dann ist das Opfer bereits von einer vom Partner erschaffenen Kulisse umgeben. Sie leben in einer eigenen Realität, die nur für die Beiden existiert.

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Janay Rice schrieb Folgendes bei Instagram: „THIS IS OUR LIFE! What don’t you all get.“ Ich weiß noch genau, wie es war, in dem Glauben zu leben, dass sich zwischen uns eine eigene, einzigartige Dynamik entwickelt hat, die der Rest der Welt einfach nicht versteht. Mein Ex-Freund war die erste Person, die ich wirklich liebte. Mit ihm habe ich neue Städte erkundigt. Mit ihm habe ich meine ersten Pillen eingeschmissen. Wir waren eins dieser nervigen Pärchen, das ständig irgendwelche Insider-Witze riss und in Erinnerungen schwelgte, so dass es unmöglich war, als Außenstehender in unsere Welt einzudringen. Als er schluchzend vor mir saß, weil er sich wegen des Übergriffs so sehr schämte und vor sich selbst ekelte, war ich von einer Sache fest überzeugt: Nur ich konnte mich wirklich in ihn hineinversetzen und die Situation wieder gerade biegen.

Ich versteckte mich hinter einem mentalen Vorhang, denn wenn ich gewisse Dinge zugeben oder zu lange über sie nachdenken würde, dann wäre diese außergewöhnliche Verbindung zwischen mir und meinem angeblichen Seelenverwandten nur noch ein Scherbenhaufen. Wenn ich mich dazu gezwungen hätte, darüber nachzudenken, ob es wirklich Unfälle waren, als meine Hand in der Tür eingequetscht, mein Hab und Gut kaputt gemacht oder mir ins Gesicht gespuckt wurde, dann hätte ich die Wahrheit einfach akzeptieren müssen.

Ich schaffte es, ungefähr 18 Monate lang meine Augen vor dieser Wahrheit zu verschließen. Während diesem Zeitraum konnte ich mich manchmal jedoch nicht zusammenreißen. Zum Beispiel habe ich mir Wolf of Wall Street angeschaut und heulte überraschenderweise Rotz und Wasser bei der Szene, in der Leonardo DiCaprio seine Frau in den Bauch schlägt. Ich habe das Ganze einfach als PMS oder so abgetan—dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass bei dem Film außer mir (und vielleicht Jordan Belfort selbst) niemand sonst geweint hat. Ein anderes Mal erlebte ich Ähnliches, als nach dem Kiffen in mir eine Paranoia aufkam und ich auf keinen Fall mehr mit meinem Freund allein sein wollte.

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Durch solche Vorfälle war ich kurz davor, mir während der Beziehung einzugestehen, dass da vielleicht etwas falsch läuft. Mein Leben musste erst ernsthaft in Gefahr geraten und meine Freunde mussten mir erst eindringlich ins Gewissen reden, damit diese ganzen unausgesprochenen Dinge ans Tageslicht kamen und ich wirklich bereit war, zuzuhören. Am schwierigsten war es für mich, diese ganzen Augenblicke noch einmal zu durchleben. Ich litt dann zeitweise auch an posttraumatischer Belastungsstörung und wurde nächtelang durch surreale Flashbacks wachgehalten—ich musste ständig an Dinge denken, die ich lange verdrängt hatte.

„DIR SELBST DIE WAHRHEIT EINZUGESTEHEN MACHT DICH PSYCHISCH LANGE FERTIG UND ES WIRD ERST VIEL SCHLIMMER, BEVOR ES BESSER WERDEN KANN.“

Das Verlassen einer gewalttätigen und rachsüchtigen Person ist auch mit die Wirklichkeit betreffenden Ängsten verbunden. Meistens ist es so, dass es für das Opfer am gefährlichsten wird, wenn es die gewalttätige Beziehung beenden will. Allein die Vorstellung davon, was dir dann angetan werden könnte, ist oft Grund genug, lieber alles beim Alten zu belassen. Dazu kommt häufig, dass die Opfer finanziell und sozial vom Partner abhängig sind—sie besitzen ein gemeinsames Konto und den gleichen Freundeskreis.

All diese Ängste wurden für mich Wirklichkeit. Meine Miete verdoppelte sich, als ich meinen Ex-Freund rausschmiss—das war ein erheblicher Teil der ganzen Scheiße, mit der ich mich herumschlagen musste, nachdem ich alles hinter mir ließ. Ich musste mit diesen lähmenden Gefühlen leben und gleichzeitig viele Schulden aufnehmen und so viel wie nur möglich arbeiten, um mir meine Wohnung auch weiterhin leisten zu können. Ich kann mich trotz alledem extrem glücklich schätzen, dass es nach der Trennung nicht noch zu weiteren Übergriffen kam, denn das ist nicht selbstverständlich. Ich habe in den ersten Wochen noch bei meinen Freunden gewohnt und habe an einem öffentlichen und belebten Ort Schluss gemacht—das gab mir ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Unter anderen Umständen wäre eine solche Aktion ziemlich scheiße von mir gewesen, aber in diesem Fall war sie extrem wichtig: Ich musste nie wieder allein mit meinem Ex-Freund sein.

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Nichts von alledem war einfach, aber mit jedem weiteren Tag wird mein Leben dadurch so viel einfacher und gehört wieder voll und ganz mir. Irgendwo zwischen den ganzen Anrufen bei Sorgentelefonen (am Ende des Artikels findest du eine Liste von Nummern und Internet-Adressen verschiedener Hilfsorganisationen), den Arztterminen wegen meiner Depressionen und Angstzuständen, dem Umzug für meinen inneren Frieden, der ständigen Arbeit, dem Hören von Lauryn Hill, dem Lesen von Andrea Dworkin und den Wutausbrüchen wurde mir klar, dass mir diese Entscheidung mein Leben zurückgegeben hatte. Ich musste mich jetzt niemandem mehr fügen, weil ich mich vor dieser Person fürchtete. Und allein das macht das Ganze zu der besten Entscheidung, die ich je getroffen habe.

Illustrationen: James Burgess

Es gibt da diesen Mythos: Häusliche Gewalt ist eine private Angelegenheit zwischen den zwei daran beteiligten Menschen und niemand will dazwischen gehen oder Zeuge davon werden. Das ist Schwachsinn. Schweigen fördert die Misshandlung. Wenn eine Gesellschaft einfach nur wegschaut, dann gibt sie den Opfern das Gefühl, dass man sie nicht unterstützen oder respektieren will und dass sie ihr Leid verdient haben. Ich wurde ein paar Mal von meinem Ex auf offener Straße und im Beisein vieler Leute körperlich angegangen und nie hat auch nur ein Mensch ein Wort gesagt. Dann wurde sich einfach schnell hinter einer Zeitung versteckt oder auf den Boden geschaut. Nach solchen Vorfällen fühlt man sich als Opfer einfach total wertlos und unsichtbar.

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Also schaut bitte genau hin. Ray und Janay Rice glauben zwar, dass sie „der Welt zeigen, was echte Liebe ist!“, aber #WhyIStayed ist dazu da, um zu demonstrieren, was echte Liebe nicht ist. Man muss ein Zeichen setzen und Augen öffnen. Je mehr Opfer zur Verarbeitung über ihre Erfahrungen reden, desto besser. Je mehr Außenstehende lernen, wie man Misshandlung versteht, erkennt und adressiert, desto besser. Aber Folgendes ist am wichtigsten: Wenn auch nur eine Person durch die aktuelle Diskussion, die Twitter-Nachrichten oder einen Artikel wie diesen hier dazu ermutigt wird, von ihrer Erfahrung mit häuslicher Gewalt zu berichten, dann sind wir dem Ende dieses weit verbreiteten Phänomens ein Stückchen näher gekommen. Zusätzlich macht diese Person dann einen großen Schritt in die Richtung des gewaltfreien Lebens, das sie verdient hat.

Es folgt noch eine Liste von Hilfs-Hotlines und Unterkünften für Menschen, die sich in einer gewalttätigen Beziehung befinden:

Frauenhelpline gegen Gewalt

Autonome Österreichische Frauenhäuser

Frauentelefon der Stadt Wien