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Interviews

Retro Stefson im Interview

Spätestens seit dem Eröffnungstrack „Solaris" vom neuen Retro Stefson-Album haben wir die Band ins Herz geschlossen. Was man über das neue Album und die isländische Musikszene wissen muss, klären wir im Interview.

Retro Stefson stecken gerade mitten drin im Tour-Marathon durch Mitteleuropa und die Festival-Saison hat noch nicht einmal begonnen. Mit dem dritten Studioalbum im Gepäck kamen sie Mitte April für einen Abstecher in ihre alte Heimat Berlin zurück. Ja, richtig gelesen—die 7-köpfige Band, die aus der isländischen Kreativmetropole Reykjavík stammt, bezeichnet eine deutsche Stadt ebenfalls ihre Heimat, schließlich hat man letzten Sommer mal für zwei Monate hier gewohnt.

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Ich habe mich mit Unnsteinn Manuel Stefánsson, dem Sänger der Band, getroffen und war von seinem Auftreten ziemlich verblüfft—so jung, so professionell und so freundlich. Bedenkt man, dass er ziemlich genau wie ich in seinen zarten Anfangszwanzigern steckt, fragt man sich doch, was man selbst die letzten fünf Jahre so getrieben hat—Unnstein spielte mit seinen gleichaltrigen Freunden und Mitmusikern immerhin auf dem Melt!, beim SXSW in Texas oder beim Iceland Airwaves. Die unzähligen Stationen auf Tour spare ich mir an dieser Stelle.

Naja, wahrscheinlich liegt das daran, dass die Jungs und das Mädchen aus Island kommen. Wir wissen ja spätestens seit Björk und Sigur Rós, was für ein kreatives Potential in diesem Land mit gerade mal so vielen Einwohnern wie Bielefeld steckt. Ich wollte mit Unnstein kein langweiliges Name-Dropping veranstalten, deshalb habe ich ihn nach den Geheimnissen des Musiker-Landes befragt und nebenbei rausbekommen, welche Band das nächste große Ding ist und bald über den Atlantik zu uns schwappen wird. Die aktuelle Tour und das neue, selbstbetitelte Album kamen dabei natürlich auch nicht zu kurz.

Ihr seid ja aktuell sieben Leute auf der Bühne. Da passiert doch ständig etwas Unerwartetes und Lustiges, oder?
Ja, auf jeden Fall. Es passiert immer irgendwas. Ich bin auch froh darüber, dass wir auf dieser Tour abends immer noch irgendwo hingehen, wie gestern, als wir bei einer Aftershow-Party in Kopenhagen waren. Das war bei einem Fußballspieler der isländischen Nationalmannschaft—er heißt Rúrik, aber du darfst das nicht veröffentlichen, weil es eigentlich sein Erholungstag vom Training war. Ich habe ein Haufen Fotos von ihm geschossen und er meinte immer nur so: „Stell das nicht online, mach das bloß nicht“!

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Sonst sind wir nach der Show eigentlich immer direkt wieder schlafen gegangen, aber jetzt treffen wir in jeder Stadt Leute, die wir bereits kennen. Da bekommt man wenigstens auch mal einen Einblick in das Leben von anderen Leuten. Im Musikbusiness ist es doch immer wieder das Gleiche, die Backstage-Räume sehen alle gleich aus, du kriegst immer das gleiche Essen und man geht immer in das gleiche italienische Restaurant. Diese Tour ist da schon etwas Spezielles. Dadurch, dass wir schon an so vielen Orten auf unseren vorigen Touren gespielt haben, treffen wir jetzt natürlich Leute wieder, die zu Freunden geworden sind und jetzt in den Städten Europas studieren oder so. Der Typ, der auf unserem Song „Kimba“ das tiefe „Kimba“ gesungen hat, studiert jetzt in Holland und ist zu unserer Show gekommen. Der ist immer so ehrlich. Wenn er sagt, dass ihm etwas nicht gefällt, dann ist das auch so. Glücklicherweise gefiel ihm unser Konzert.

Wie sieht das Retro Stefson‘sche Warm-Up Backstage vor einem Konzert aus? Stretcht ihr euch, macht Gymnastik, wie im Video zu „Kimba“?
Haraldur, der jetzt nicht mehr mit uns tourt, hat diese physischen Sachen immer gemacht. Jetzt sitzen wir aber meist alle nur vor unseren Computern. Zehn Minuten vor dem Auftritt hol ich mir dann vielleicht einen Drink. Dann kommt auch die Boombox raus und ich leg ein bisschen Rap auf. Wir versuchen ein bisschen zu tanzen, aber meist nur ziemlich simplen Krams. Danach stellen wir uns in einen Kreis und machen dieses Fußball-Ding mit den Händen in der Mitte und fangen an zu springen. Unser Team heißt „valur“—also kleiner Adler oder Falke. Und dann kommt auch schon die Zeit, dass wir auf die Bühne gehen und Spaß haben.

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Was war bisher der schlimmste Auftritt in der Geschichte der Retro Stefson?
In der Geschichte der Band? Das ist eine gute Frage. Ich kann mich nicht so richtig daran erinnern, dass da… Naja… Nee… Normalerweise versuchen wir, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert noch positiver an die Sache zu gehen. Aber manchmal haben wir schon vor echt wenig Leuten gespielt. Auf dieser Tour haben wir bereits vor nur 12 Leuten gespielt.

Wo?
In Chur in der Schweiz. Da lebt halt keiner, also nur 30.000 Leute oder so. Aber die haben wenigstens getanzt. Für die Leute ist es natürlich angenehmer und macht mehr Spaß, wenn wir vor ausverkauftem Haus, wie gestern in Kopenhagen oder in Hamburg spielen. Da nimmt man die Musik auch ganz anders wahr, also so wie es sein sollte.

Lass uns ein bisschen über das neue Album „Retro Stefson“ reden. Warum habt ihr es mit dem Track „Solaris“ begonnen? Im Vergleich zu euren vorherigen Songs und den folgenden Songs des Albums klingt es ziemlich different, fast ein bisschen düster.
Das weiß ich gar nicht mehr so genau. Ich mochte aber die Idee. Wenn das Lied in der Mitte des Albums kommen würde, würde es ein Loch in das Album reißen. Wenn es aber am Anfang steht, dann fabriziert es eine gewisse Spannung und man weiß nicht, was einen als nächstes erwartet. Es ist auf jeden Fall kein Song, den man von uns erwartet hätte. Auf unserem ersten Album hatten wir ein Heavy Metal-Intro. Jetzt haben wir mit „Solaris“ begonnen, so dass der Track vor den Songs steht, die eher nach uns, unseren alten und dem Durchschnitt des neuen Albums klingen, obwohl sie sehr vielseitig sind. Es war für uns also ziemlich wichtig mit „Solaris“ zu beginnen, um eine Spannung aufzubauen, so dass die Leute überrascht sind und aufmerksam bleiben.

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Eure bisherigen Alben waren ein Mix aus Isländisch, Englisch und Portugiesisch. Auf „Retro Stefson“ sind allerdings alle Songs auf Englisch. Warum habt ihr das gemacht?
Vielleicht ist das unbewusst passiert. Der Hauptgrund war, dass ich das Schreiben damit mehr geübt habe. Früher habe ich einfach immer nur ein paar Worte in der Sprache geschrieben, die mir gerade durch den Sinn kam, so Code-Switching. Häufig habe ich dann Geschichten in den Texten verarbeitet, die letztlich niemand verstand. Jetzt, da ich in Englisch schreibe, versteht das natürlich auch nicht gleich jeder, aber ich kann es besser erklären, dadurch dass die Geschichte kohärenter wird. Ich nutze zwar immer noch ein paar isländische Wörter, jedoch traue ich es mir jetzt eher zu, auf Englisch zu schreiben.

Wolltet ihr damit vielleicht den nächsten Schritt wagen, weg vom europäischen und hin zum US-amerikanischen Markt?
Ja, schon so ein bisschen. Wir haben im letzten Jahr beim SXSW in Texas gespielt und vor zwei Monaten bei einem isländischen Showcase in Washington mit Soléy und FM Belfast. Die USA sind aber so riesig, deshalb ist es so schwierig Connections zu knüpfen. Europa ist ja schon ein großer Markt, aber in den Staaten ist das nochmal etwas vollkommen anderes.

Ihr habt im letzten Sommer für zwei Monate in Berlin, Moabit gelebt. Euer neues Album ist im Vergleich zu den alten deutlich elektronischer. Würdest du sagen, dass die deutsche und speziell die Berliner Musikszene darauf einen Einfluss hatte?
Ja, ich denke schon. Ich kenne nicht besonders viele Bands hier Deutschland, dafür aber Produzenten und Leute, die elektronische Musik machen. Wir haben aber z. B. auch die Jungs von Sizarr kennengelernt. Die leben jetzt zusammen mit ihrem Produzenten in dem Haus, in dem wir gelebt haben, als wir zum ersten Mal nach Berlin gekommen sind. Der Produzent nutzt Ableton Live, diese Software zur Musikproduktion hier aus Berlin, die quasi jeder hier nutzt. Ich hab mir ein wenig seinen Workflow angesehen. Für Synthesizer-Nerds ist das hier natürlich auch das Paradies. Es gibt so viele coole Läden und Leute, die interessante Sachen machen. Das hat auf jeden Fall einen Einfluss gehabt. In Island ist alles ziemlich limitiert. Alles, was du irgendwo sehen kannst, findest du auf Anhieb auch online. All den Leuten hier zuzuschauen ist echt inspirierend.

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Euer Album wurde in Deutschland, Island und Belgien aufgenommen. Ist es nicht manchmal ganz schön schwierig, ständig das zu Hause zu wechseln und vor allem den Kontrast von einer 3,5 Millionen-Stadt wie Berlin und einer 90% kleineren Stadt wie Reykjavík zu erleben?
Ja, das ist irgendwie verrückt, aber auch lustig. Ein Berliner hat mal zu uns gesagt, dass du eine Stadt erst dann beginnst wertzuschätzen, wenn du sie verlässt, denn dann merkst du erst, dass du sie vermisst. Wir haben gerade erst angefangen, Berlin zu vermissen, und jetzt, wo wir wieder auf Tour sind, vermissen wir unsere Heimat. Am Tag bevor ich nach Island fahre, habe ich die Nase immer gestrichen voll von beispielsweise Berlin, da will ich einfach wieder nur aufs Land nach Hause. Wenn ich von Island wieder hierherkomme, dann fühle ich mich am letzten Tag auch immer komplett genervt davon, dass jeder einfach jeden kennt und dann freue ich mich auf die Freiheit hier. Hier kann man machen, was man will. Ich laufe hier die Straßen entlang und keinen interessiert’s. In Island kennt man halt jeden, den man sieht. Wenn du jemanden nicht kennst und er kein Tourist ist, dann stimmt irgendetwas nicht, dann bist du in der Matrix.

Gibt es noch andere deutsche Bands, die ihr mögt?
Ja, wir stehen voll auf Moderat, Modeselektor und das Zeugs von Siriusmo. Wir waren beim Melt!-Festival 2011, das hat echt Spaß gemacht. Wir haben beim Berlin Festival auch Apparat mit seiner Band gesehen, was auch ziemlich gut war. All dieser elektronische Kram halt.

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Kommen wir zu eurem Heimatland Island. Ich denke, das Thema ist teilweise ziemlich ausgelutscht und das meiste wurde bereits gesagt. Es kommen (mittlerweile nicht mehr so) überraschenderweise viele großartige Bands aus diesem Land, das nur etwas über 300.000 Einwohner hat. Verrate uns doch einfach das Geheimnis, das dahinter steckt?
Es sind ein paar Dinge, die dafür verantwortlich sind. Zuerst einmal gibt es in jeder kleinen Stadt eine Musikschule. Selbst wenn in dieser Stadt nur 100 Leute leben und es keinen gibt, der Musikunterricht geben kann, dann kaufen sie halt einen, nach dem Motto, lass uns einen estländischen Akkordeon-Lehrer holen. So gehen sie sicher, dass jeder zu einer Musikschule gehen kann.

Außerdem gibt es keine Major-Labels oder irgendwelche großen Unternehmen, so dass wir keinen Druck haben, Musik für das Radio zu machen. Deshalb muss und kann man nur eigenständige, originale Musik machen, weil es bereits prominente Bands gibt, die du nicht einfach kopieren kannst. Retro Stefson könnte auch eine Band wie jede andere sein. Man muss aber seinen eigenen Sound finden und darf diesen nicht verkaufen, also man darf keine Musik machen, die so tut, als wäre sie bereits populär. Dadurch ist der kreative Prozess wesentlich freier und offener im Vergleich zu vielen anderen Orten in Europa.

Dann gibt es noch eine gewisse Tradition von tourenden Musikern in Island, so ungefähr seit den Sugarcubes. Als ich acht Jahre alt war, war mein Aufseher im Hort Örvar von der Band Múm, der auch bei FM Belfast spielt. Der war stets auf Tour und so hat man diese Vision schon recht früh in den Kopf gepflanzt bekommen. Die ganzen Bands kennen sich alle untereinander, es ist so einfach Connections zu knüpfen und so bekommt man auch schnell Hilfe, wenn man was Bestimmtes will.

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Gibt es in Island eine Institution, die hilft, die Musiker rauszubringen? In Dänemark erfahren Bands z. B. sehr viel finanzielle Unterstützung vom Staat.
Ja, es gibt diesen Band-Contest „Músíktilraunir“, was sich als Musikexperimente übersetzen lässt. Of Monsters And Men haben den 2010 gewonnen und haben dann den fettesten Vertrag überhaupt unterschrieben. Viele Bands haben bei dem Wettbewerb bisher mitgemacht. Wir eigentlich nicht. Man hat so schon in relativ jungem Alter die Chance im Radio gespielt zu werden oder auf einer coolen Bühne zu spielen. Vom Staat gibt es auch Gelder, allerdings nicht besonders viel und seit der Finanzkrise erst recht nicht mehr.

Wie stehst du zu Band-Contests? In Deutschland gibt es auch ein Haufen dieser Art. Die Bands, die da allerdings spielen, haben aus meiner Sicht alle schon verloren, weil diese Veranstaltungen immer ziemlich langweilig sind. In Island scheint das aber irgendwie anders zu sein?
Ja, bei diesem „Músíktilraunir“-Wettbewerb spielen immer sehr gute Bands. Ich saß gerade in einer Jury bei einem Wettbewerb für Nachwuchskomponisten in klassischer Musik, also für die Kinder, die nicht bei den Bandwettbewerben teilnehmen. Wir haben da Noten gelesen und uns Sinfonien angehört. Dann habe ich mir noch die Demos für die anderen Entscheidungen, also die Bandwettbewerbe angehört und die waren alle wirklich sehr gut. Ich habe mich wie ein ziemlich cooler Typ aus dem Musikbusiness gefühlt, als ich vorhersagen konnte, welche Band gewinnt. Viele von den Bands aus Island, die jetzt populär sind, haben sich da kennengelernt und angefangen. Ich habe diese Veranstaltungen früher auf VHS aufgenommen, wenn sie im Fernsehen übertragen wurden. Es hat sich also eine gewisse Kultur um diese Wettbewerbe entwickelt.

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Was ist das nächste große Ding aus Island?
Da gibt es zurzeit eine ziemlich coole Band, die Sísý Ey heißt. Es sind drei Schwestern und ein Techno-Produzent, die zusammen House-Musik machen. Die haben im Februar beim Sónar Festival in Reykjavík gespielt und werden im Sommer dann auch beim Sónar in Barcelona spielen, da werde ich sie für einen Song unterstützen. Direkt in meinem Urlaub, das wird super! Die sind wirklich gut. Der Vater der drei Schwestern ist Jazz-Pianist und war in der ersten isländischen Band, die einen Top-10-Hit in Großbritannien hatte, sie hieß Mezzoforte. Ihr berühmtester Song hieß „Garden Party“, das war 1983 oder 1984. Die Mutter der Schwestern ist auch Sängerin, d. h. sie kommen aus einer wirklich musikalischen Familie. Es ist so cool, wenn Geschwister Harmonien singen. Es klingt total unterschiedlich im Vergleich dazu, wenn das nicht verwandte Leute machen. Selbst in der Musiktheorie gibt es eine spezifische Bezeichnung dafür, wenn Geschwister oder Familien zusammen Harmonien singen, irgendwas in Latein. Das klingt auf jeden Fall echt super. Die sind das nächste große Ding!

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