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Wettessen

Englische Idioten veranstalten jedes Jahr einen Brennnessel-Esswettbewerb

Eine Brennnessel ist im Grunde nur ein grüner Stiel mit tausenden kleinen Messern dran. Aus nicht ganz geklärten Gründen findet in einer englischen Stadt jedes Jahr ein Wettbewerb statt, um herauszufinden, wer am meisten davon verdrücken kann.

Am Samstag vor der Sommersonnenwende im Jahr 2002 stopfte sich Simon Sleigh, ein Bio-Gemüsebauer aus dem Dorf Hawkchurch in Devon, England, gut 23 Meter an Brennnesseln in seinen gefräßigen Schlund. Die Vorstellung, Nesseln zu sich zu nehmen, ist nicht außergewöhnlich, wenn man an die Allgegenwart und die hochgelobten, der Gesundheit dienenden Eigenschaften von Tees, Aufgüssen und sogar Bieren aus dem Kraut denkt. Aber die Pflanze einfach so zu essen, das ist eine andere Sache. Abgesehen von den stacheligen Stielen ist jedes Brennnesselblatt überzogen mit tausenden mikroskopisch kleinen Haaren, die sich bei Berührung als Nadeln ablösen und eine Mischung von hautreizenden Chemikalien in jedes Fleisch injizieren, das sie irgendwie stört. Die Zunge und der Hals werden aufgescheuert. Der Mund färbt sich schwarz. Und manchmal fangen die Nesseln an, im Bauch mit einem hörbaren Gurgelgeräusch zu gären.

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Sleigh war nicht allein. Er stellte sich dieser Probe des Durchhaltevermögens zusammen mit mehreren Dutzend anderen Leuten und Hunderten an Zuschauern, die alle für eine von Südenglands zahlreichen, bizarren Frühlingstraditionen gekommen sind: Dorsets eigene Brennnessel-Essweltmeisterschaft, in der Stadt Marshwood.

Wettstreiter in der Hitze des Gefechts. Foto: bizarreoddities

Der Wettbewerb findet jedes Jahr kurz vor der Sommersonnenwende statt, das Schlüsselereignis eines größeren Bierfestivals im mit Strohdach versehenen, über 500 Jahre alten „Bottle Inn" Pub. Am Samstagabend treffen sich Interessenten und junge Talente aus der ganzen Welt (und eine Menge an lokalen, nationalen und internationalen Zuschauern und Berichterstattern) und zahlen eine unterschiedliche, kleine Gebühr, um 50cm lange Pflanzenteile mit Nesselstielen und -blättern zu verdrücken. Sie haben eine Stunde, um so viele stechende Blätter wie möglich vom Stiel abzureißen und zu essen. Ohne Brennnesseln von zu Hause, ohne Pinkelpausen, ohne Betäubungsmittel. Damit alles geschmeidiger abläuft, sind nur kräftige Schlücke Bier (oder manchmal Wasser) erlaubt. Der Gewinner erhält einen kleinen Pokal und normalerweise 100 Pfund (ungefähr 120 Euro).

Eine Brennnessel ist im Grunde nur ein grüner Stiel mit tausenden kleinen Messern dran.

Der Wettbewerb fing einst als eine Wette zwischen zwei örtlichen, betrunkenen Bauern an. Man könnte meinen, dass das bei den meisten englischen Traditionen der Fall ist. Der Legende nach

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beschwerte sich ein Bauer namens Alex Williams 1986 zu Unrecht über die Größe der Brennnesseln in seinen Feldern. Falls ihm irgendjemand Nesseln zeigen kann, die größer sind als die von ihm angebauten, 4,5 Meter großen Monster, dann isst er sein Kraut, und zwar roh. Kurz darauf kam ein anderer Bauer mit einem knapp 5 Meter langem Brennnesselstiel. Williams hat sich nicht vor seiner Wette gedrückt. Jahr für Jahr haben sich die Prahlereien und die Wetten zu einer familiären Tradition entwickelt. Im Jahre 1997 kaufte schließlich ein Mann namens Shane Pym die Kneipe, nahm Notiz von dem Wettbewerb und sah die Chance, damit Kohle zu machen. So wurde die Brennnessel-Essweltmeisterschaft geboren: durch Alkohol, Wetten und ausgelassenem Kapitalismus.

Leider brachte der Wettbewerb allein keinen ausreichenden Geldsegen und war nicht Publikumsmagnet genug, um das Pub zu retten. „Dieser Ort hat viele düstere Momente durchmachen müssen", sagt Nigel Blake, der derzeitige Besitzer des „Bottle Inn", welches er im Sommer 2012 restauriert und wiedereröffnet hat. Er sagt, dass es davor „für fast vier Jahre geschlossen war." Der Wettbewerb wurde jedoch fortgeführt. Nur ein paar Kilometer die Straße runter sagt Steve Smith vom „George Inn", dass er eine „Angst, dass die Tradition des Brennnessel-Essens in der Gegend verloren gehe" spüren konnte. Um diese also zu wahren, veranstaltete er hier 2012 die Nessel-Essmeisterschaft von Dorset. Blake jedoch glaubt die Geschichte nicht und sagt, dass das „George Inn" nur eingesprungen ist, weil bekannt war, dass das „Bottle Inn" im Laufe des Jahres wieder öffnen sollte und sich somit die letzte Gelegenheit bot, aus dem Wettbewerb Profit zu schlagen. Wie dem auch sei, der örtliche Wunsch nach einem Nachmittag voller Mund-Sadomasochismus war so groß, dass der Wettkampf den scheinbaren Tod seiner ursprünglichen Örtlichkeiten und eine lange Pause überlebte.

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Das „Bottle Inn"

Vielleicht wurde der Verzehr von Brennnesseln deshalb so beliebt, weil er—wie die meisten Esswettbewerbe—eine ausbaufähige Fertigkeit ist. Blake hat bisher nur einmal beim Wettkampf mitgemacht, weil er, wie er zugibt, wegen der Eröffnung des Pubs im TV zu sehen war. Er ist trotzdem ein Experte, wenn es um das Essen von Brennnesseln geht und zeigt Gästen seines Pubs gerne, wie man das Spiel spielt. Du musst einfach nur das Blatt mit deinen Fingern falten, weil so die Härchen nach unten gedrückt werden und du den Geschmack genießen kannst, ohne gestochen zu werden. Dieser liegt übrigens irgendwo zwischen Spinat und Rucola. Der Haken ist, dass es bei dem Wettbewerb um Schnelligkeit geht, die weniger talentierten Leute also das schnelle und präzise Falten nicht hinkriegen und deswegen komplett wund gestochen werden. Und vieles hängt auch von unkontrollierbaren Faktoren wie der Hitze und dem Regen der vergangenen Jahreszeit und der daraus resultierenden Stacheligkeit der Ernte ab. Der Gewinner der letzten beiden Jahre hat Blake den besten Weg verraten, sich vorzubereiten: ein großes Frühstück zu sich nehmen, bis zum Abend nichts mehr essen und kein Bier trinken.

Wenn man bedenkt, dass die von den Wettstreitern angewandte Strategie keinen Konsum der vom Pub angebotenen Speisen und Biere vorsieht, dann erscheint einem das Veranstalten des jährlichen Ereignisses womöglich als unkluge Geschäftsentscheidung seitens des „Bottle Inn". Aber 50 Teilnehmer ziehen ein Publikum von bis zu 2.000 Menschen an, von denen sich alle vollfressen und volllaufen lassen. Also lohnt sich die Investition in Nesselbestände, und natürlich trinken die Fans den Pub im Laufe des Tages leer. Das Beste an all dem ist laut Blake, dass „die Leute Brennnesseln anscheinend nicht satt haben. Der Typ, der letztes und vorletztes Jahr gewonnen hat, will nächstes Mal, am 7. Juni 2014, wiederkommen, weil er mit seinem Rekord nicht zufrieden war."

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Ein Strohmann im wörtlichen Sinne. Foto:

Für die Teilnehmer ist das Wiederkommen eine Frage des Könnens und der Ehre, des Verfeinerns eines kleinen Stücks persönlicher Größe. Das Publikum und die Presse kommen jedoch nicht mehr nur zu dem Ereignis, weil es etwas großartig Neues bietet. Im Grunde war Brennnessel-Essen von Anfang an nichts wirklich Neues, wenn man einen Blick auf einige andere der Traditionen Südenglands wirft. Weiter oben in Gloucestershire gibt es einen Zwiebel-Esswettbewerb in Newent und einen Käse-Rollwettbewerb am Cooper's Hill. Im Nordosten, genauer gesagt in Whittlesey, Peterborough, verkleiden sich Männer als lebende Strohmonster und stolzieren umher. Und nur die Straße runter Richtung Südwesten, in Ottery St. Mary, East Devon, rennen die Menschen durch die Nacht und halten dabei Fässer voll mit brennendem Teer über ihre Köpfe. Sogar das „George Inn", mittlerweile ohne Möglichkeit, den Brennnessel-Esswettbewerb durchzuführen, veranstaltet jetzt die Weltmeisterschaft im Knoblauchessen.

Ein Typ mit einem brennenden Fass.

Es scheint so, als suchten die von der Sonne nur wenig beachteten Menschen dieses Landes nach irgendeinem belebenden Weg, außer Haus den Höchststand der Sonne zu feiern, bevor der feuchte und unerbittliche englische Winter wieder Einzug hält. Während einige der Veranstaltungen eine lange Tradition haben (das Spielen mit in Flammen aufgehenden Fässern geht zurück bis zu den Zeiten der Hexenverbrennung), sind andere nur das Ergebnis eines betrunkenen Aufbrausens. Aber es gibt keinen wirklichen Grund, das alles in Frage zu stellen. Manchmal muss man einfach nur besoffen die Sonne anbeten, sich den Mund zerstören und einen Laib Käse einen Berg hinunterjagen, ohne großartig darüber nachzudenken.

Ein Typ, der richtig gut Brennnesseln verdrücken kann