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Wieviele Beine lassen sich mit der Energie eines Bein-Amputats amputieren?

Im Dienste des Servicejournalismus haben wir uns auf die Suche nach den Zahlen hinter der Tatsache gemacht, dass Amputate verbrannt und zur Energiegewinnung genutzt werden.
Amputation in einem alten Lehrbuch aus dem 18. Jahrhundert. Bild: ​Wikimedia Commons​FA2010 | ​Gemeinfrei

​Auch wir bei Motherboard fühlen uns dem klassischen Servicejournalismus verpflichtet. Als wir von unseren niederländischen Kollegen erfuhren, dass dort amputierte Gliedmaßen aus Krankenhäusern einfach verbrannt und die Energie wieder dem Wärmekreislauf zugeführt wird, klang das erstmal nach einem gleichermaßen ungeheuerlichen wie morbide-energieeffizienten Konzept. Als uns dann noch die Leserfrage erreichte, ob es auch hierzulande einen ähnlichen Energiekreislauf gäbe, haben wir uns entschieden einer möglichen Verwertung amputierter Gliedmaßen in Deutschland nachzugehen.

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Nehmen wir also einmal an, ich würde in einen Ringkampf mit einem Alligator verwickelt werden, aus dem ich zwar haarscharf siegreich, doch mit angebissenem Bein herausgehe. Grausamerweise können die Ärzte in der Berliner Charité meinen Oberschenkel nicht mehr retten und so muss ich mich davon verabschieden. Doch was nun? Es ist ein sehr reales Schicksal, das aus den unterschiedlichsten Gründen alleine in Deutschland jährlich 60.000 Personen ereilt. Was aber passiert mit einem amputierten Bein und werden tatsächlich Operationen bei der Entsorgung eines Amputats energetisch befeuert?

Die Venus von Milo im Louvre repräsentiert eine klassische Schönheit—auch ohne Arme.

​Die Venus von Milo im Louvre repräsentiert eine klassische Schönheit—auch ohne Arme. Bild: ​Wikimedia Commons, ​Jastrow | ​Gemeinfrei

Zunächst mal können wir Entwarnung geben: Es gibt keine makabere Feedback-Schleife, in der deutsche Krankenhäuser ihre Amputate direkt neben dem OP-Saal verfeuern, um Energie für ihre nächsten Eingriffe zu generieren. Nach einer pathologischen Untersuchung allerdings (z.B. um die Krankheitsursachen nachzeichnen zu können) werden die Amputate tatsächlich entsorgt—und zwar geregelt nach der LAGA 18, der „Vollzugshilfe zur Entsorgung von Abfällen aus Einrichtungen des Gesundheitsdienstes".

In dieser Richtlinie wird genau festgelegt, welche Stoffe aus dem Krankenhaus mit welchem Abfallschlüssel wie entsorgt werden müssen. Körperteile fallen dabei unter den sogenannten Ethischen Abfall, zusammen mit Blutbeuteln, benutzten OP-Tupfern und Föten aus Schwangerschaftsabbrüchen.

​Im Krematorium von Taipeh kann die Familie mit leichenhitze erwärmten Kaffee trinken, während sie auf die Asche ihrer Angehörigen wartet.

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Nachdem das Amputat in ein extra gekennzeichneten Behältnis gepackt wurde, das nicht umgefüllt werden darf, wird es abgeholt und als Sondermüll in eine spezielle Anlage zur Entsorgung von gefährlichen und giftigen Gütern gebracht; zum Beispiel in eine der größten europäischen Sonderverbrennungsanlagen im niedersächsischen Brunsbüttel. Wie genau man den Müll dort los wird, entscheidet das Energieeffizienz-Kriterium.

Das bedeutet: Jedes Ausgangsmaterial mit einem Heizwert von über 11.000 kJ pro Kilo kann direkt als Brennstoff genutzt werden. Alles andere darf nur „beseitigt" werden—auch mein hypothetisches Bein.

Es wird also mit den anderen Klinikabfällen verbrannt—und der daraus entstehende Dampf wird dort tatsächlich zum Heizen und Löschen verwendet, wie mir bestätigt wurde. Aber müsste das Bein nicht als ethischer Abfall ein bisschen würdevoller entsorgt werden? Herr Leitschuh, der in der Sonderverbrennungsanlage für Umweltmanagement zuständig ist, wirkt da eher gleichgültig: „Nö, so genau unterscheiden wir da nicht."

Energieleistung Bein geteilt durch Energieverbrauch Operation + Säge

Im Krematorium Wien ist man unterdessen bereits einen Schritt weitergegangen und nutzt die Energie, die bei der Leichenverbrennung entsteht, für den eigenen Betrieb: Das Unternehmen Bestattung Wien GmbH beheizt mit der Abwärme ihres anliegenden Krematoriums, in dem pro Jahr über 6.500 Verstorbene dem Feuer übergeben werden, ihr neues Zentralgebäude. 

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Die Feuerhalle Simmering des Krematoriums Wien.

​Die Feuerhalle Simmering des Krematoriums Wien. Bild: Bestattungen Wien GmbH | Mit freundlicher Genehmigung

Und dank der konsequenten Energieoptimierung der Bestattungen Wien GmbH, die als Tochterfirma der inzwischen teilprivatisierten Stadtwerke Wien die Sache mit der Effizienz wahrhaft ernst nimmt, haben wir nun auch eine Ausgangszahl für unsere Rechnung über die Energie, die ein Körper bei der Einäscherung produzieren kann: Es sind ungefähr 225kW pro Leiche.

Das im Jahr 2012 installierte System ist dabei natürlich trotz seiner erwiesenen Energieeffizienz nicht unumstritten. Obwohl die Weiternutzung der anfallenden Hitze enorm umweltfreundlich ist, reagieren viele Menschen entzürnt auf das 'Heizen mit Leichen'. „Wissen Sie, wie man's macht, macht man's falsch", erklärte mir der Geschäftsführer der Bestattung Wien, Herr Janovsky, in morbidem Wiener Schmäh. „Wenn wir die Abwärme nicht nutzen würden, würden wir die Umwelt belasten, wenn wir sie verwerten, sind die Leute auch empört."

Das ist eine orthopädische Oldschool-Gipssäge, die aber den verwendenden Knochensägen im Krankenhäusern sehr ähnelt.

Das ist eine orthopädische Oldschool-Gipssäge, die aber den verwendenden Knochensägen im Krankenhäusern sehr ähnelt. Bild: Wikimedia Commons.  ​

Jetzt können wir rechnen. Da eine Feuerbestattung rund 90 Minuten dauert, müssen wir die 225kW pro Leiche und Bestattung zunächst einmal auf einen Wert in Kilowattstunden umrechnen:

Energieleistung eines durchschnittlichen Krematoriumofens pro Einäscherung: 225 kW

Dauer einer Feuerbestattung: 90 min

225 kW / (90 / 60) = 150 kWh

Dank dieses Dreisatzes zum warm werden wissen wir nun, dass (zumindest bei den Muffelöfen des Wiener Krematoriums) ein stündlicher Heizwert von 150 kW pro Ofen erreicht wird. Da nur Einzelbestattungen erlaubt sind, gilt dieser Wert grundsätzlich für die Kremierung einer einzelnen Leiche. Allerdings müssen wir zur Präzisierung dieses Wertes noch die Energie des Sargs abziehen, in dem die Leichen dem Feuer übergeben werden.

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In Österreich ist es genauso wie in Deutschland gesetzlich verboten, Leichen ohne einen massiven Holzsarg zu kremieren. Auch aus historischen Gründen wird ein ganz besonderes Augenmerk auf eine ethische Einäscherung gelegt. Sie unterschiedet sich von der Massenvernichtung in den Krematorien der NS-Konzentrationslager auch dadurch, dass die Asche exakt identifiziert wird und keine Druckluft als Brandbeschleuniger eingesetzt wird.

Laut einer Studie der ​Deutschen Bundesstiftung Umwelt macht der Sarg im Durchschnitt ganze 65 % der bei einer Einäscherung erzeugten Energie aus. Der Körper ist also lediglich für 35 % der erzeugten 150 kWh verantwortlich:

Energie einer Feuerbestattung pro Stunde: 150 kWh

Anteil der Energie einer kremierten Leiche ohne den verbrannten Sarg: 35%

150 kWh x 0,35 = 52,5 kWh

Als nächstes müssen wir ermitteln, welchen Anteil die Masse meines hypothetischen Beins an diesen von einem Kadaver pro Stunde erzeugten 52,5 kWh hat. Ein Blick in die ​biomechanische Literatur verrät mir, dass der Gewichtsanteil eines Beins im Durchschnitt 19% des gesamten Körpergewichts beträgt:

Anteil eines Beins am gesamten Körpergewicht: 19% des Körpergewichts

Energieerzeugung eines Kadavers pro Stunde: 52,5 kWh

52,5 kWh x 0,19 = 9,975 kWh

​Somit wissen wir nun, dass mein hypothetisches Bein, zumindest auf der Grundlage der Werte des Wiener Krematoriums, in knapp zehn Kilowattstunden Wärmeenergie übersetzt werden könnte.

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Jetzt müssen wir noch wissen, welche Geräte überhaupt nötig sind, eine Amputation durchzuführen. Da ich mich glücklicherweise noch keiner Operation unterziehen musste, behelfe ich mir zur weiteren Recherche YouTube-Anschauungsmaterial und stoße auf ein unappetitliches Lehrvideo, das neben vielerlei Handarbeit vor allem eine Maschine im Einsatz zeigt: eine oszillierende, chirurgische Knochensäge.

Den Energiebedarf dieser Maschine erfahre ich vom schwäbischen Medizintechnik-Lieferanten ​Bäramed, der unter anderem auch Knochensägen in seinem Katalog metallener Folterinstrumente führt. Der Geschäftsführer Markus Lucke erklärte mir mit Engelsgeduld, dass es natürlich darauf ankäme, wie scharf das Sägeblatt sei und wie die Knochensäge mit Energie versorgt wird.

Üblich sei im Krankenhaus der Betrieb mit Druckluft oder Akku, und „dann sägen die Chirurgen meist so zwei bis drei Minuten an einem Bein, das geht recht schnell", erläuterte er mir weiter am Telefon. Auch wenn der Gerätelieferant nicht mit echten Knochen arbeitet, übt er sich regelmäßig am Zerschneiden von Kunstknochen und stoppt dafür die Zeit. Schließlich muss er seine Produkte ja mit realistischen Werten auf Messen demonstrieren.

Eine multifunktionale chirurgische Knochensäge. ​

Eine multifunktionale chirurgische Knochensäge. ​Bild: ​Bäramed. Mit freundlicher Genehmigung. 

Herr Lucke übersendet mir freundlicherweise ein Datenblatt zu seiner Bestseller-State of the Art-Knochensäge, deren Energieverbrauch ich für meine Berechnungen zugrunde legen konnte.

Überraschenderweise hat die Chirurgensäge AIRDRILL eine ziemlich läppische Leistung von 200W—sogar mein Pürierstab zu Hause hat mehr Power. Vermutlich macht das vielfältige Aufsatz-Set die Leistung wieder wett.

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Als nächstes muss ich nun die Energiemenge berechnen, die für eine Amputation in einem deutschen Krankenhaus aufgewendet werden muss.

Leistung einer Knochensäge: 200 W (das entspricht 0,2 kW)

Betriebsdauer einer Knochensäge pro Amputation: 3 min (das entspricht 0,05 Stunden)

Energieverbrauch einer Knochensäge pro Amputation:

​0,2 kW x 0,05 h = 0,01 kWh

Nun wollen wir auch nicht die weiteren Energieaufwendungen missachten, die ein solcher Eingriff verlangt, wie zum Beispiel den Herztonmonitor, die Festbeleuchtung im OP-Saal und den nicht zu verachtenden Energiebedarf des Chefarztes und der Assistenz, die sich doch hoffentlich vor einer Amputation im Dienste der akkuraten medizinischen Arbeit noch einen starken Kaffee kochen.

Wir gehen davon aus, dass die zusätzlichen Apparatschaften wie der Herztonmonitor und weitere Gerätschaften eine Stunde lang für die Operation eines Patienten eingeschaltet werden müssen:

Beleuchtung 8 x 23 W = 184 W x 1 h = 0,18 kWh

Kaffeemaschine 1000 W x 0,2 h = 0,2 kWh

​Herztonmonitor pauschal = 0,1 kWh

Gesamtenergie Operation ohne Säge = 0,38 kWh

Die Amputation eines Beines verlangt also insgesamt mindestens 0,39 kWh an Energie. Ich schreibe mindestens, da besonders energiebedürftige Chefärzte oder auch die Fahrt zur Arbeit (die ja pauschal ohnehin unvermeidlich ist) hier nicht miteingerechnet wurden.

Zum Abschluß müssen nur noch diese beiden Posten zusammengerechnet werden:

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Energieleistung Bein geteilt durch Energieverbrauch Operation + Säge = mögliche Anzahl Amputationen pro verbranntem Bein

9,975 kWh : 0,39 kWh = 25,57 

25 einhalb Beine! Das ist doch mal eine Verwertung in Dienste der Wissenschaft. Hocheffizientes, nachhaltiges Recycling sozusagen. Erinnern wir uns an den Physikunterricht: Energie verschwindet nicht, sondern wird nur umgewandelt. Hätten wir das also auch geklärt.

Doch Obacht, ihr schlauen Menschen: Diese Rechnung war nur fiktional (ich bin nämlich gar nicht in einen Alligatorkampf geraten). Und wir haben zum Beispiel den Energiebedarf der gasbetriebenen Öfen nicht mit eingerechnet. Wir sind für unsere Rechnung davon ausgegangen, dass die Verbrennungen ohnehin stattfinden—alleine schon, da es die Richtlinie ja vorschreibt. Natürlich ist aber jeder Ofen anders und auch die Unterschiede in Gasbrennwerten und Zustandszahlen des Gases müssen je nach Höhe über dem Meeresspiegel angepasst werden.

Was wir hier nur theoretisch errechnet haben, ist anderswo schon längst Praxis: Ethische Überlegungen, wie etwa die Frage, ob eine Verwertung der Leichen makaber sei, scheint ein taiwanesisches Krematorium beispielsweise ziemlich schnell ad acta gelegt zu haben. Dort können Angehörige in einem ansässigen Café während der 90-minütigen Feuerbestattung auf die Asche ihrer Verstorbenen warten und dabei eine von 130 Kaffeesorten trinken, die durch die entstandene Hitze der verbrannten Leichen aufgebrüht wurde. Auch die Klimaanlagen werden mit der Abwärme der Verbrennung betrieben. Für die innovative Idee zur Modernisierung der alten Klimaanlagen gab es sogar Fördermittel aus Taipeh für die Einrichtung.

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Bei täglich 50 verbrannten Leichen lohnt sich das finanziell tatsächlich. „Das spart uns im Monat 315 Euro an der Stromrechnung", wird der Direktor Yang Chih-Hsien freudig zitiert.

Ein paar Jahre später, 2011, zog das zentralenglische Redditch nach und beheizt heute, trotz gelegentlichem Protest der Anwohner, sein öffentliches Schwimmbad mit der überflüssigen Wärmeenergie aus dem örtlichen Krematorium.

Laut den Betreibern spare ihnen diese innvoative Kreislaufverwertung ganze 16.500 Euro Heizkosten im Jahr. Nicht zuletzt wärmte auch das mittlerweile zu einem Kunstausstellungsraum umfunktionierte frühere Krematorium in Berlin-Wedding seine Geschäftsräume mit der Hitze aus den eigenen Öfen.

Aber was, wenn man sein Bein gar nicht verwertet haben mag? Was, wenn man es als Teil seines Selbst sieht und sich einen pietätvollen Umgang damit wünscht? Das Berliner Bestattungsgesetz zum Beispiel drückt sich dazu etwas schwammig aus. Körperteile können laut dem Text unter Umständen genau wie Totgeburten unter 1000 Gramm auf Wunsch bestattet werden. Im Regelfall sind Körperteile vom Krankenhaus aber „hygienisch einwandfrei und und dem sittlichen Empfinden entsprechend" zu beseitigen—was auch immer das konkret heißen mag.

Seele eines Einbeinigen auch nur ein Bein? Hat sie überhaupt Beine?

Im Internet fördern die moralischen Fragen zu dieser Thematik selbst auf sonst für ihre besserwisserische Dummheit berüchtigten Portalen grenzphilosophische Perlen zutage: „Hat die Seele eines Einbeinigen auch nur ein Bein? Hat sie überhaupt Beine? Haben Beine eine eigene Seele oder zumindest ein entsprechendes Stück der Seele des dazugehörenden Menschen?" Wohlgemerkt, das stammt nicht aus dem Philosophie-Supplement der aktuellen ZEIT, sondern von gutefrage.net.

Lieber frage ich bei der Amputierten Initiative e.V. nach, die sich schon seit Langem für würdevollere Umgangsmöglichkeiten mit Amputaten einsetzt. „Vor vielen Jahren war ein inzwischen verstorbenes Mitglied von uns nach ihrer eigenen Amputation sehr traurig und verzweifelt. Die Person hatte schon vorher mit den Ärzten besprochen, dass sie das amputierte Bein—es war der Unterschenkel—begraben lassen wird. Sie hat es auch getan und so ihren inneren Frieden gefunden", erzählte mir der Vorstand Dagmar Gail.

Ein Grabstein für ein amputiertes Bein.

​Auch sehr religiöse Menschen, die für ihr nächstes Leben „vollständig bleiben" möchten, können ihre Beine unter Umständen bestatten lassen. Der vorzeitige Kauf einer Grabstätte zu Lebzeiten ist dabei nicht Problem, sondern absurderweise der Transport im richtigen Container. Es ist nicht erlaubt, das Bein einfach im Jutebeutel mitzunehmen—bei einem Wurmfortsatz geht das einfach in Behältern mit Formalin. Auch Nierensteine können problemlos als Souvenir auf deinem Kaminsims stehen, weil sie nicht als Körperteile im ursprünglichen Sinn gelten dürfen sie mitgenommen werden. Ein Unterschenkel macht da schon eher Schwierigkeiten, auch wenn der Verlust eines solchen mit weitaus mehr Schmerzen verbunden ist und „oft dem Verlust eines lieben Menschen nahekommt", so Frau Gail.

Das bedeutet also, dass der würdevollen Bestattung von Gliedmaßen tendenziell nur der Mangel an passenden Behältnissen im Wege steht. Und dann muss man nur noch einen Bestatter finden, der so etwas tut. Mit einem Bein im Grab stehen wir schließlich alle schon.