Die Geheimpolizei des Islamischen Staates
Mitglieder des IS posieren im November 2015 in Syrien für ein Propagandafoto. Da war Nils D. längst in Deutschland im Untersuchungsgefängnis. Bild (Ausschnitt): Imago

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Die Geheimpolizei des Islamischen Staates

Aus dem Kinderzimmer in den Dschihad: Der Dinslakener Nils D. berichtet von seiner Terroristen-Karriere in Syrien und gibt Einblicke in die brutale Arbeit des „Inlandsgeheimdienstes“ des selbsternannten Kalifats.

Morgen werde er sich umbringen, hört Nils D. seinen Cousin Philip B. im August 2014 am Telefon sagen. Sein Cousin ist im Irak, Nils D. ist in Syrien. Philip B. ist damals schon durch Propaganda-Videos des Islamischen Staates bekannt. Am nächsten Tag kann Nils D. seinen Cousin nicht mehr auf dem Handy erreichen. Dann liest er im Internet, dass es im Irak nahe bei Mossul einen Selbstmordanschlag gab. Er weiß, er wird seinen Cousin nicht wieder sehen.

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So schildert es Nils D. vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf, wo er sich unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verantworten muss. Die Aussagen von Nils D. sind in vielerlei Hinsicht wertvoll für die Behörden: Er hielt sich etwa dreizehn Monate beim sogenannten Islamischen Staat auf und berichtet nun detailliert über Strukturen und Veränderungen innerhalb der Terrororganisation sowie über jene Geheimpolizei, der er angehörte und die in Ermittlerkreisen auch als „Gestapo des IS" bezeichnet wird.

Kiffen, abhängen, Scheiße bauen. In den Tag hinein leben nennt es Nils D., „sinnentleert" nennt es die Richterin.

Der Tod seines Cousins war womöglich ein wichtiger Wendepunkt für Nils D., der im Oktober 2013 der „Lohberger Brigade" nach Syrien hinterhergereist war.

Aus dem Kinderzimmer in den Dschihad

Die „Brigade" sind junge Männer aus Dinslaken, ohne Job oder mit Drogenproblemen. Der Lebensstil von Nils D. lässt sich kurz zusammenfassen: kiffen, abhängen, Scheiße bauen. Seitdem er fünfzehn ist, hat er eine Tochter, für die er kaum Verantwortung übernimmt. Er wohnt mit Anfang zwanzig noch zu Hause, ist nach seiner abgebrochenen Ausbildung arbeitslos, klaut und dealt mit Drogen. In den Tag hinein leben nennt das Nils D. „Sinnentleert" nennt es die Vorsitzende Richterin Barbara Havliza.

Der Eingang zum Hochsicherheitstrakt des Düsseldorfer Landgerichts, in dem Nils D. seit einer Woche ein ausführliches Geständnis über seine Arbeit beim IS ablegt. Bild: Anna Neifer.

Seit 2011 scharen sich die jungen Dinslakener mit den gebrochenen Biografien um Männer, die ihnen einen Sinn im Leben versprechen—doch was sie bekommen, sind gefährliche Ideologien, die in ihren Köpfen Wurzeln schlagen. Im „Dinslakener Institut für Bildung" im Stadtteil Lohberg wächst der Gedanke an den Dschihad, für den sie ihrer alten Welt den Rücken kehren. In ihrem neuen Leben in Syrien fliegen Raketen am Horizont, fällt der Strom aus und das Essen schmeckt den Deutschen nicht. Doch sie tragen eine Kalaschnikow: Das gibt ihnen ein Gefühl von Macht. Nils D. hat das gefallen, später sei es für ihn normal geworden.

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Als Nils D. bei den Lohbergern in der WG nahe Aleppo einzieht, hat er keine Aufgaben. Wenn seine Freunde für einen Tagesausflug an die Front fahren, bleibt er alleine im Haus zurück. Er habe den Kampf gegen Assad zwar unterstützen wollen, sagt Nils D., aber vielleicht nicht wie sein Cousin—wegen seiner Beweglichkeit. Damit meint er die etwa 155 Kilo, die er zu dem Zeitpunkt gewogen hat. „Weichei" nannten ihn seine Freunde, erst in Deutschland, dann auch in Syrien.

Die erste Hinrichtung

Nils D. lernt schießen, mit verschiedenen Waffen umzugehen und fährt mit in ein Trainingslager des IS, angeblich nur zu Besuch—für nicht mal eine Woche. Während die Kämpfer ihre Kilometer joggen und mit der Waffe trainieren, spaziert Nils D. über das eingezäunte Gelände. Dann werden alle auf einem Platz versammelt. Ein älterer Mann wird verdächtigt, ein Assad-Spion zu sein und mit zwei Kugeln erschossen. Es soll die erste Hinrichtung sein, die Nils D. gesehen hat, viele weitere werden folgen.

Etwa im März 2014 meldet sich Nils D. freiwillig für einen Posten im Gefängnistrupp in Manbidsch, gemeinsam mit seinen Kollegen Enez A. und Mustafa K. Die anderen Lohberger kommen dazu. Die Deutschen passen auf die Gefangenen, vor allem Syrer, auf; beaufsichtigen sie, wenn sie einmal am Tag essen bekommen. Nils D. hat nicht viel zu tun, hängt mit den Lohbergern ab und langweilt sich. Man könnte auf den Gedanken kommen: alles wie in Dinslaken.

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Doch nichts ist mehr wie in Dinslaken. Nils D. fühlt sich als Mitglied einer Terrororganisation. Er hat einen orangefarbenen Ausweis mit Foto, IS-Siegel und seiner Funktion. Seine Arbeitskluft: dunkle Kleidung, Sturmhaube, Kalaschnikow und Sprengstoffgürtel. Vom Gefängniswärter wechselt er schließlich zum Sturmtrupp, einer Gruppe von etwa 15 Leuten. Dies ist eine Spezialeinheit von insgesamt drei Einheiten im Bereich Sicherheit: Informationsabteilung, Sturmtrupp und Gefängnis, so erläutert es Nils D.

Im Zirkel der Geheimpolizei

Die Informationsabteilung ist zuständig für das Aufspüren von Deserteuren oder Spionen. Der Ablauf sei immer ähnlich gewesen, schildert Nils D. seine Tätigkeit. „Es gab Zeugen, die die Leute verpfiffen haben." Die Gründe für solche Festnahmen sind mitunter erfunden. „Der hatte Streit mit seinem Nachbarn und geht zum IS", sagt Nils D.

Gemeinsam mit dem Zeugen fährt der Sturmtrupp zum Haus der betreffenden Person. Während der Gefangene festgenommen wird, wartet Nils D. mit dem Zeugen im Auto. Die Wohnung wird durchsucht und Wertgegenstände des Gefangenen konfisziert. Nils D. gibt vor Gericht an, bei solchen Aktionen 10 bis 15 Mal mitgefahren zu sein.

Ein IS-Mitglied (nicht Nils D.) an einer Straßensperre. Bild (Ausschnitt): Imago

Bei den Einsätzen seien auf der Straße Frauen zusammengekommen und hätten geschrien und geweint. „Ich fand das übertrieben. Die tun dann immer so, als würden sie ohnmächtig und kippen einfach um", sagt Nils D. Es klingt unbedacht und mitleidlos. Die Frauen sahen ihren Ehemann oder Vater in dem Moment womöglich zum letzten Mal. Denn der Verdächtige kommt nach seiner Verhaftung ins Gefängnis, wird verhört und verurteilt. Ausgang ungewiss.

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Wenn der Chef zum Verräter wird

Freunde verwandeln sich in Feinde, das erlebt der damalige Chef von Nils D., als er ins Gefängnis geworfen und hingerichtet wird. Nach einem Anschlag auf einen Befehlshaber der al-Nusra Front wird der Chef von Nils D. verdächtigt, den Anschlag in Auftrag gegeben zu haben.

Das Ziel ist der „perfekte Polizeistaat".

„Ich glaube, das war aber nicht der ausschlaggebende Punkt, er soll die Befehlskette übersprungen haben", sagt Nils D. Sein neuer Chef greift härter durch, es wird eine Folterkammer im Gefängnis gebaut. Währenddessen verändert der Krieg, den der IS kämpft, auch die Arbeit der Geheimpolizisten: Der IS gerät unter Beschuss, von außen und von innen. Die Stimmung wird angespannter, aggressiver und brutaler. Das Ziel des Islamischen Staates: „Der perfekte Polizeistaat", sagt Nils D.

Er wohnt gegenüber vom Gefängnis, er hört jeden Tag Schreie. Die Folter wird beim Verhör eingesetzt, „wenn sie glauben, jemand lügt", sagt Nils D. Gefangene werden gefesselt, an Stangen unter der Decke aufgehangen, in kleine Spinde gesperrt oder geschlagen. Geständnisse werden erpresst. Nils D. will sich weder an der Folter noch an Kampfhandlungen beteiligt haben.

Angeberei mit aufgesetzter Waffe

Dann gibt es da dieses Foto. Der vermummte Nils D. zielt mit einer Waffe auf den Kopf eines Mannes. Die Hände sind ihm auf den Rücken gefesselt, über seinem Kopf hängt eine Jacke. Die Richterin Havliza projiziert das Foto an die Wand des Gerichtssaals. „Ich habe keine Worte", sagt der Angeklagte. Als die Richterin hartnäckig nachfragt, warum er das gemacht habe, kommt Nils D. folgende Antwort über die Lippen: „Posing."

Posen für die Kameras ist offenbar ein beliebtes Hobby der Dschihadisten und wertvolles Beweismaterial für die Ermittler in Deutschland. Sie belegen, dass Nils D. und die Lohberger Kontakt zu den Attentätern von Paris hatten; etwa zu dem getöteten Drahtzieher Abdelhamid Abaaoud und dem noch flüchtigen Abdelslam Salah. Auch drei Männer aus der Wolfsburger Zelle trifft Nils D., nur zwei werden nach Deutschland zurückkehren. Letzten Monat wurden die beiden Wolfsburger zu je mehreren Jahren Haft verurteilt.

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Die hochgesicherte Nebenstelle des Düsseldorfer Landgerichts. Bild: Anna Neifer.

Im Juni 2014 wird das Kalifat des Islamischen Staates ausgerufen, zum ersten Mal schwört Nils D. einen Treueeid auf den Anführer Abu Bakr al-Baghdadi. In einer kleinen Gruppe spricht er nach, was ihm vorgesagt wird, dabei legen alle die rechte Hand aufeinander. Er ist jetzt offizielles Mitglied im selbsternannten Kalifat.

Die Fahnenflucht vom Sturmtrupp

Im Sommer will Nils D. seinen Cousin besuchen, der mittlerweile in Raqqa stationiert ist. Alles ist komplizierter geworden, Nils D. braucht für jeden Schritt, den er tut, Stempel und Genehmigungen, alles wird genau kontrolliert. Als er ankommt, ist Philip B. schon weg, auf den Weg in den Irak. Sie telefonieren, Nils D. will ihn zur Umkehr bewegen, doch sein Cousin geht in den Tod. Bei dem Selbstmordanschlag sterben etwa zwanzig weitere Menschen.

Während sein Cousin als Märtyrer freudig gefeiert wird, fühlt sich Nils D. „scheiße". Er hat Zweifel an der Ideologie des IS und setzt alles daran, ausreisen zu können. Er lässt sich auf eine Liste setzen, für Einsätze in Europa. Am Ende schafft er es zurück nach Dinslaken, wird verhaftet und kooperiert schließlich mit den Behörden.

An diesem Mittwoch sitzt er wieder im Gericht und schließt seine Aussage ab, die insgesamt vier Verhandlungstage in Anspruch nahm. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft, sein umfassendes Geständnis könnte sich jedoch strafmildernd auswirken.

Titelbild: Mitglieder des IS posieren im November 2015 in Syrien für ein Propagandafoto. Da war Nils D. längst in Deutschland im Untersuchungsgefängnis. Bild (Ausschnitt): Imago