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Rudis Brille

Brasilien, das Paradies?

Ein kurzer Streifzug durch Brasiliens Clubkultur im Zeichen der Sommerolympiade.

Alle Fotos von Gabriel Maia

Was für viele die asiatischen Länder sind, ist für mich Südamerika, im speziellen Brasilien. Vielleicht auch, weil mich die feine, singende, portugiesische Sprache hier so fasziniert (nicht die in Portugal, wohl gemerkt).

Das größte Land Südamerikas, mit seinen mittlerweile über 200 Millionen Einwohnern, strahlt Faszination und Lebensfreude aus, doch natürlich wird hier auch hart und viel mit Klischees gearbeitet. Es ist natürlich vieles fernab von Belleza und Saudade. Das Leben ist bitter geworden, viele Skandale erschüttern das Land, die Währung liegt am Boden und die Menschen sind unzufrieden.

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Zwei Jahre nach der Fußball-WM finden heuer die Olympischen Sommerspiele statt, zwei Großereignisse, die nicht nur Freude auslösten, denn nun werden sündteure Sportstätten gebaut, wenn woanders immer noch Verkehrschaos und Wohnungsnot herrschen. Dennoch wurde man erneut in letzter Sekunde fertig, auch wenn alle Journalisten in Rio über Verkehrschaos und Verschmutzung stöhnen.

Musikmäßig ist das riesige Land Quelle vieler toller Strömungen und der Einfluss vieler Kulturen lässt Brasilien als musikalische Großmacht in der Musikgeschichte erscheinen. Einerseits gibt es natürlich Strömungen wie Samba und den sanften Bossa Nova, andererseits die vielen Subgenres, etwa Brazil Reggae oder Rio Funk (auch Baile Funk und gerne Favelamusik genannt).

Dazu jede Menge Jazz, Gesang und Einflüsse aus dem indigenen und afrikanischen Raum und am Ende natürlich die brasilianische Populärmusik, die "música popular brasileira", kurz MPB genannt, die viele der klassischen Strömungen aufnimmt und sie zu Popmusik verwurstet. Wobei hier die Grenzen zwischen Erträglichkeit und Unhörbarkeit fließend verlaufen. Egal, mitgesungen wird von allen, das macht wohl auch den Unterschied zu Europa aus, wo immer noch englischsprachiger Pop dominiert, auch wenn sich das in den letzten Jahren auch in Österreich verschoben hat.

Doch wer nun glaubt, hier würde bei solcher Vielfalt ähnlich wie in vielen anderen Ländern Südamerikas, etwa Argentinien oder Peru, eine große elektronische Musik- und Clubkultur gepflegt, der irrt leider etwas.

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São Paulo etwa verfügt über keinen ernstzunehmenden Club mehr, außer dem legendären "D-Edge", jenem Aushängeschild, das anlage- und soundtechnisch in Südamerika seinesgleichen sucht und das von dessen Betreiber Renato Ratier aufgerüstet wurde wie kein zweiter Laden (zwei Funktion One, dazu die neue D.A.S Sound im Hauptraum).

Weiter im Süden (Santa Caterina) gibt es das legendäre "Warung" direkt am Strand, ein Lieblingsclub vieler Größen und in Curitiba, der europäischsten aller brasilianischen Großstädte, und Florianopolis—hier möchte man fast meinen, man sieht überall Gisele Bündchen-Klone—gibt es mit den VIBE-Clubs ebenfalls tolle Locations von internationalem Format.

Daneben ist es leider schwierig geworden, eine elektronische Clubkultur à la Europa aufzubauen. Viel Schuld daran tragen die Radiostationen und derer gibt es viele. Sie berieseln das Publikum mit Kommerz und das in einer Wiederholungsschleife, die fast ein wenig an Foltermethoden erinnert.

Es gibt aber natürlich auch Clubs von Format in Brasilien und große und kleine Festivals en masse, nur lassen die großen Distanzen und die suboptimalem Transportmittel (keine Züge, nur überfüllte Busse) ein gepflegtes Clubhopping eher nicht zu. Wer kann, fährt, wohin auch immer, mit dem Auto. Folge: Man sieht die Staus von São Paulo angeblich aus dem Weltraum. Nun, dort war ich zwar nicht, aber ich habe welche erlebt, die könnte man gesehen haben (Zielort Flughafen: 4 Stunden für 35 km). Man überlegt es sich zweimal, wohin man fährt. Ein "gemma schnell mal dahin und wenn es uns nicht gefällt dorthin" gibt es nicht.

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Wie sieht es aus, wenn man ausgehen will in Brasilien beziehungsweise Rio? Hier eine kleine Zusammenfassung:

Rio De Janeiro

Rio ist am schönsten aus dem Flugzeug, sagen viele. Es ist aber tatsächlich schön. Nur findet man dort auch echt viel mehr Klischee als sonst wo: Samba, Favelas, Diebe, Hitze, einen vollkommen überfüllten Strand bis 18:00 Uhr, einen vollkommen leeren danach, clubtechnisch meistens nur Gedöns und einige spannende Undergroundfeste, wenn man sich traut. Wer Geld hat, hat natürlich gewonnen und oben bei Jesus am Corcovado ist es auch nur windig. Das "D-Edge Rio" sollte aber bald eröffnen, dann hat auch diese Metropole einen amtlichen Club.

Sich betrinken

Das ist gar nicht so einfach. Es gibt die farblosen Plastikstuhlbars mit ebensolchem Bier, es gibt Chacaça oder man geht in die teuren, feinen Läden, wo man alles bekommt, aber mehr bezahlt als hierzulande. Chacaça ist das Nationalgetränk (Schnaps aus Zuckkerrohr), aber richtig stark und Gin ist eher selten, dafür gibt’s viel Sake. Wein gibt es nur für die oberen Zehntausend. Im Supermarkt ist er ebenfalls teuer und dafür gar nicht mal so gut. Brasilianer trinken schon gern, aber das Kampftrinken unserer Breitengrade habe ich dort nicht erlebt. Viel spielt sich aber freilich zu Hause in den Wohnungen ab. Die Illusion von den andauernd cocktailschlürfenden Menschen hierzulande ist nett, aber unwahr.

Rauchen und so

Das ist fast schon ausgestorben. Indoor darf man sowieso nirgendwo mehr rauchen, darüber wachen überdimensional viele Securitys und draußen ist es fad und ungemütlich. Wenn, dann "Maconha" (Äh … eh schon wissen). Andere Drogen gibt es natürlich auch, doch wenn man damit in den Clubs erwischt wird—WCs kann man erst gar nicht verschließen und sie sind einsichtig—, dann sieht man alt aus. Ich hatte auch fast den Eindruck, dass die Leute sich immer am wenigsten nach dem sehnen, wovon sie am meisten haben und vice versa.

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Im Club

In den Clubs herrscht eine Bürokratie, die unendlich nervt. Man muss sich registrieren, bekommt die Karte zum Bestellen und wird nach allen Regeln der Kunst geprüft (das dauert). Dasselbe passiert beim Ausgang. Drinnen ist die Stimmung, entgegen den Klischees, oft recht verhalten. Es dauert, bis alle warm werden. Das ganz große, ganz feine Musikverständnis fehlt meist (außer—no na—D-Edge oder Warung) und auf Festivals herrscht Masse und Lärm. Techno, wie er bei uns gespielt wird, ist dort eine Sache des leicht aufkeimenden Undergrounds.

Kommerzialisierung

Brasilien hat alles: Riesenfestivals und Discopaläste, "Universo parallelo" und die Riesenfeste um den Carnaval—gerade jetzt gibt es einen Ableger vom Tomorrowland—, aber es dominiert EDM und poplastige Ohrenblutmusik. EDM und seit neuestem "Deep House" (man spricht es "Tschippi housi" aus) dominiert, wie ich es selten zuvor gesehen habe.

Fazit und Parallelen zu Österreich

Doch natürlich gibt es die großen Namen der elektronischen Musikszene. Gui Boratto etwa, der Grand Seigneur der Szene, verfügt über gigantische Reputation in Brasilien und gründete gerade sein Label DOC. Renato Ratier, den man durchaus als wohlhabend bezeichnen könnte, gründete mit D-Edge Rec. ebefalls ein Label und förderte die brasilianische Szene (es soll bald ein D-Edge Rio kommen) sehr stark.

Das wäre beispielsweise ein Unterschied zu Österreich: Ein bisschen fehlen bei uns die mutigen Investoren, die etwas mehr übrig haben für die Clubkultur und nicht ständig Angst haben, das könnte ihrem Image schaden.

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Doch die wirklich großen Stars in Brasilien sind eher kommerzielle Acts wie Vintage Culture, Alok und Gabe.

Daneben gibt es die "alte arrivierte" Garde um MauMau, Rentao Lopes, Murphy, Renato Cohen, das Urgestein der Technoszene oder Andersson Noise. Daneben gibt es viele Acts, die zuerst im Ausland bekannt werden mussten, ehe sie auch in Brasilien groß wurden. Da gibt es Tronic-Mitbegründer Wehbba und seine Frau ANNA, die gerade groß abräumt, Victor Ruiz oder "Elekfantz", die von Gui Boratto supportete Liveformation.

Das ist wohl auch eine Parallele zur österreichischen Musikszene, denn obwohl Brasilien so groß ist, tun sich brasilianische Labels eher schwer, auch international ganz groß durchzustarten—ähnlich wie hier, nur ist natürlich der Markt im eigenen Land groß, dank vieler kommerzieller Festivals.

Und nicht zu vergessen sind natürlich die Drum’n’Bass-Legenden Patife und Marky, deren Neuadaptation von "Carolina Carola Bela" noch immer einer heimlichen Landeshymne gleicht, obwohl die Drum’n’Bass-Szene in Brasilien sicher nicht so groß ist wie die in Österreich (im Vergleich).

Was könnte Österreich von Brasilien lernen? Nun, schwer, weil es sich um zwei sehr unterschiedliche Märkte handelt. Doch ist es in Brasilien so, dass Firmen und Großmedien Events und Veranstalter sehr wohl unterstützen, was diese natürlich oft wieder gefährlich in die Kommerzialisierungsspirale treibt. Aber es gehört eben Fingerspitzengefühl dazu. Und das für alle gleiche Rauchergesetz und die erstaunlich hohe Nichtraucherquote haben mich ebenfalls stark beeindruckt.

Es herrscht Goldgräberstimmung bei den großen, internationalen Festivalkonzernen nach der großen SFX Pleite. Viele wollen hierher, nicht alle können zugleich. Würde das Land endlich auch einmal zur Ruhe kommen, hätte es das Zeug, zu einem der wichtigsten Musikmärkte zu werden, auch abseits des quälenden EDM und Pophouse. Gejammert und gesudert wird aber auch hier, was das Zeug hält. Man fühl sich fast heimisch.

In jedem Fall ist Südamerika als Ganzes, und Brasilien im Speziellen ein spannender Markt, auch für Musikfreunde. Wer forschen will, kann sein Leben damit verbringen.

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