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Interviews

„Ich habe das von klein auf mitbekommen.“—Xatar über den IS und die Rekrutierung in Deutschland

Der kurdische Rapper Xatar erlebt die Radikalisierung und Rekrutierung im eigenen Umfeld schon seit Jahren. Er hat hierfür nicht nur Erklärungen, sondern auch Schuldige gefunden.

Auch wenn es in den Medien zeitweise ruhiger um den „Islamischen Staat“ wird, toben die IS-Milizen weiterhin schonungslos im Irak und in Syrien. Erst dieses Wochenende wurde die Stadt Ramadi von den Islamisten erobert und ist noch immer in deren Hand. Unter den Kämpfern finden sich auch Rekruten aus Deutschland.

Der Rapper Xatar, der im Iran geboren wurde und kurdische Wurzeln hat, kennt selbst Kämpfer, die in den Glaubenskrieg gezogen sind, und hat die Radikalisierung von einigen Gläubigen persönlich miterlebt. Als er vier Jahre alt war, flohen seine Eltern mit ihm nach Deutschland. Seitdem lebt Xatar als muslimischer Migrant in Bonn und weiß nicht nur, wie es ist, jeden Tag nach dem Personalausweis gefragt zu werden, sondern kennt auch die Probleme, denen nicht-türkische Moslems beim Ausüben ihrer Religion jeden Tag gegenüberstehen.

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Nach einer eher unfreiwilligen Pause—er saß wegen eines Raubüberfalls im Gefängnis—veröffentlichte der Alles oder Nix-Labelchef Anfang Mai sein Album Baba Aller Babas, auf dem auch ein Diss gegen den Islamischen Staat zu hören ist. Wir haben uns mit ihm über diese Zeilen und die Problematik der IS-Rekrutierung unterhalten können: Xatar ist nicht nur von dem falschen Islamverständnis des IS überzeugt, sondern gibt Deutschland auch die Schuld dafür, dass hierzulande so viele IS-Kämpfer rekrutiert werden konnten.

Noisey: Dein IS-Diss auf dem „Original“-Track hat für viel Aufsehen gesorgt. Am Ende heißt es: „Ein paar Fundis wollten Kurdistan schocken, indem Blut fließt / Sie wollten uns Islam beibringen, doch vergaßen, dass wir die Kinder Saladins sind“. Was spielt Saladin für eine Rolle für dich?
Xatar: Für uns Kurden ist er eine besonders wichtige Figur, er stammte ja aus einer kurdischen Familie. Aber auch in der gesamten islamischen Welt ist er ein Held. Mir ging es bei der Zeile speziell darum, dass dieser Mann—den viele IS-Kämpfer so krass feiern—ein Kurde war und wir seine Nachfahren sind—und nicht diese Moslems, die gerade auf Moslems machen, obwohl sie gar keine sind.

Der IS bezieht sich also auch auf Saladin?
Sie meinen, sie würden sich an ihn halten, aber das tun sie eben nicht. Viele von diesen Wahhabiten haben mir auch auf Facebook geschrieben und wollten mit mir ernsthaft darüber reden. Ich habe auch mit ihnen geredet, die Zeit habe ich mir genommen. Sie waren dann selber verwundert darüber, was ich ihnen erzählt habe, denn das erzählt ihnen sonst niemand. Saladin hat ganz andere Sachen repräsentiert, wie etwa Frieden oder Handel, anstatt eben zu töten. Töten war damals Gang und Gäbe in der Welt, aber er hat andere Optionen aufgezeigt, um den Feind zu bestrafen, zum Beispiel mit einem Handelsstop. Wenn man ihnen sowas dann erzählt, wundern sie sich und sie kommen ins Grübeln.

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Du kennst oder kanntest also einige ISIS-Kämpfer. Hast du heute überhaupt noch Interesse, ihnen irgendwas zu sagen?
Nein, ich sage denen nichts. Was soll ich ihnen denn sagen, Alter? Auch wenn das viele alte Freunde von mir sind—jeder macht sein Ding.

Also kein Kontakt und auch kein Interesse?
Nein, Bruder. Die sollen ihr Ding machen. Gott entscheidet am Ende. Ich glaube auch an Gott, weißt du. Ich glaube sogar sehr fest daran. Ich glaube an diesen Tag, an dem einiges nochmal vor Gott geklärt wird.

Das jüngste Gericht.
Ja. Deshalb brauche ich ihnen jetzt auch nichts groß zu erzählen. Dort ist dann sowieso jeder dran. Bei ihnen ist das dann erst recht kein Spaß. Schließlich machen sie das alles auch noch im Namen von Gott.

Manche sagen, dass eines der problematischsten Rekrutierungsfelder für Religiös-Radikale der Knast sei. Würdest du da zustimmen?
Bullshit!

Warum Bullshit?
Wer erzählt das?

Soziologen und Pädagogen, die meinen festzustellen, dass Leute im Knast religiös-radikaler werden oder eben von anderen aktiv radikalisiert werden.
Also ich war in ziemlich vielen bekannten Knästen in Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland Pfalz und NRW und ich habe zumindest noch nie gesehen, dass da nur eine Person rekrutiert wird. Leute, die so was machen, lassen die da gar nicht rein.

Vielleicht entwickeln sich manche aber auch erst in eine solche Richtung, nachdem sie reingekommen sind.
Als Gefangener meinst du?

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Ja.
Ach Blödsinn, nein. Schau mal: Die Rekrutierung in Deutschland—und nicht unbedingt in den Knästen—wird vor allem durch zwei Sachen verursacht. Ich habe das von klein auf mitbekommen. Ich war selber schon ein paar Mal kurz davor, auf solche Filme zu kommen. Das eine Problem ist, dass Deutschland nur mit ein, zwei Organisationen aus der Türkei zusammenarbeitet und die als Repräsentanten für alles sieht, was mit dem Islam in Deutschland zu tun hat. Vor allem ist das die DİTİB. Die unterrichten und machen auch sonst alles nur auf Türkisch, nur ganz wenig auf Arabisch. Aber Muslime in Deutschland sind eben nicht nur Türken. Nochmal die gleiche Anzahl kommt aus ganz anderen Ländern. Darunter sind Bosnier, Albaner, Kurden, Iraner, Pakistaner, Bangladeschis und auch Deutsche. Die sprechen alle kein Türkisch. Wo sollten die also hin, wenn in jeder Moschee nur türkisch geredet wird?

Wurde dann also irgendwann auch auf Deutsch gepredigt?
Genau, dieses Problem gab es solange, bis diese große Wahhabiten- und Salafisten-Sache aufgetaucht ist. Das war 2003, 2004, in der Zeit nach dem 11. September. Sie waren die allerersten, die angefangen haben, auf Deutsch zu predigen. Auf einmal gab es in jeder Stadt Moscheen—kleine Hinterhofmoscheen—, wo viele auch hingegangen sind. Dort sah man vielleicht einen Kanacken, oder auch einen Deutschen, der perfekt deutsch gesprochen hat. Studierte Typen, Akademiker, die auf deutsch angefangen haben, Leute zu Muslimen zu machen—also aus Überzeugung, was cool war.

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Hast du das selber miterlebt?
Ich war auch oft dabei. Damals war aber noch nicht der Punkt erreicht, an dem es hieß: „Wir müssen jetzt kämpfen gehen.“ Aber so hat das damals angefangen. Damals hat das auch echt Bock gemacht. Da stand ja kein alter Mann mit Bart vor dir, der dir irgendwas erzählt. Das waren Jugendliche, coole Leute, frisch rasiert, studiert, Kickboxer. Da denkst du dir: „Boah, das ist doch voll der Player. Der war damals ein Gangster und jetzt erzählt er so coole Sachen.“ Wenn du 14 Jahre alt bist und gerade selber auf der Straße unterwegs bist, hat das schon eine krasse Anziehungskraft. Die haben coole Sachen erzählt und du hast mit ihnen zusammen gegessen und geredet. All das, was eben in jeder Moschee passiert, nur dass du es jetzt zum ersten Mal auch verstanden hast, weil es auf Deutsch war. Und das hat sich entwickelt! Das ist die eine Sache. Das Problem mit der DİTİB ist in Deutschland übrigens bis heute so.

Und was ist das zweite Problem?
Das zweite große Problem sind die Wahlkämpfe in Deutschland: Immer wenn es zum Wahlkampf kommt, kommt dieses populistische Gelaber von irgendwelchen Parteien, auch von größeren Parteien. Dann werden sie auf einmal ganz kurz zu Nazis. Obwohl sie das gar nicht sind. Sie müssen das machen, damit die aus irgendwelchen Dörfern von irgendwelchen Vollidioten ihre Stimmen kriegen.

Du meinst dieses Islam-Bashing?
Nicht nur Islam-Bashing, auch Ausländer-Bashing. Ob das nun afrikanische Christen sind oder sonst was—einfach alles, was anders ist. Und das passiert ja immer zu Wahlkämpfen. Das ist Futter! Es ist ja ein Fakt, dass zu Wahlkampfzeiten Dinge gesagt werden, die eigentlich scheiße oder einfach falsch sind. Und in der Moschee nutzen sie das natürlich für sich: „Schaut was unsere Politiker gestern wieder für einen Spruch gebracht haben. Und auf die sollen wir hören? Deren Weg sollen wir gehen? Sie stellen uns als Teufel da.“ Das wird dort erzählt und mit der Zeit wirkt das natürlich. Was natürlich noch dazu kommt, ist die semi-imperialistische Politik aus Amerika, die irgendwann einfach zu offensichtlich wurde. 2001 habe ich mit deutschen Jungs aus meiner Schule noch darüber diskutieren müssen: „Die Kriege sind ungerecht, die sie führen.“ Zurück kam dann: „Nein, Amerika würde so was nicht tun.“ Mittlerweile weiß jeder, was abgeht. Trotzdem wird es irgendwie immer noch geduldet, weil sie einfach die größten Eier und die dicksten Waffen haben. Man kann nichts machen. Sie haben das Para in der Hand.

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Noch mal kurz zum zweiten Punkt, dem jämmerlichen Verhalten während Wahlkämpfen und speziell dem Islam-Bashing. Würdest du sagen, dass gläubige Menschen trotzig auf Kritik an ihrem Glauben reagieren und dann sagen: Jetzt erst recht?
Nein, das ist nicht aus Trotz, überhaupt nicht. Es geht einfach um die mittlerweile viel zu offensichtliche Interessenpolitik in Deutschland und allgemein in Europa und dem Westen. Wenn man das wenigstens wieder ein bisschen verschleiern könnte wie damals, aber das ist durch das Internet und mehr Vernetzung einfach schwieriger geworden. Und diese offensichtliche Interessenpolitik fuckt irgendwie jeden ab und kann fatalerweise von anderen Menschen ausgenutzt werden, um Leute für schlimme Sachen zu rekrutieren.

Mit dem deutschen Staat hast du auch anderweitig deine Probleme. Auf dem Track „Justizia“ mit Kalim heißt es am Ende: „[…] und dann nennt ihr das: Ingewahrsamnahme eines Verdächtigen durch die exekutive Gewalt. Aber komischerweise kenne ich dieses Verhalten selber von der Straße. Nur bei uns nennt man das: Nimm dir 20 Psychokanacken aus dem Viertel und fick sein Leben! […] Wen wollt ihr verarschen?“ Hast du für dich eine Alternative zum absoluten Gewaltmonopol des Staates gefunden? Keine einfache Frage natürlich.
Das ist ganz einfach eigentlich: Natürlich muss der Staat am Ende des Tages ein absolutes Gewaltmonopol haben, das ist ganz klar. Es geht nur um die Art und Weise, wie etwas gesagt wird. Wenn ich zu dir zum Beispiel sagen würde: „Könntest du mir kurz deinen Löffel geben? Ich brauche den kurz.“ Dann ist das was ganz anderes, als zu sagen: „Ey, du Bastard, gibt mir deinen Löffel!“ Und in Europa gibt es Länder, in denen man höflich nach dem Löffel fragt und es gibt Länder, in denen sie ihn dir einfach aus der Hand nehmen. Was die Polizei angeht, ist Deutschland so ein Land, in dem sie dir den Löffel aus der Hand nehmen. Holland oder vor allem England sind so Länder—ich habe ja länger in England gelebt—, wo es mit der Polizei ganz anders läuft.

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Zum Beispiel?
In England hat die normale Polizei schon mal keine Knarren und sie dürfen dich nicht nach einem Ausweis fragen. Da fängt hier schon der erste Diss an. Warum zum Teufel musste ich meine ganze Jugend ungefähr achtzigtausend Mal meinen Ausweis zeigen? Warum? Ich hing früher jeden Tag am Brüser Berg rum. Die Beamten von der gleichen Station in Duisdorf fragten ständig nach meinem Ausweis. Alter, ihr wisst doch langsam, wer ich bin! Das fing an, als ich so 13 war und ging bis 22. Nicht nur ich, alle Jungs aus dem Viertel mussten ständig den Ausweis zeigen. Das ist etwas, was für mich schnell zur Normalität wurde. Irgendwann merkte ich dann, dass mir das unterbewusst von Anfang an das Gefühl gegeben hat: Das ist ein Feind.

Würdest du trotz all der Unzufriedenheit lieber in einem Land leben, das sich seinen Wohlstand auch erraubt und einen Rechtsstaat hat, oder in einem Land mit weniger Wohlstand, in dem man Dinge noch untereinander klärt?
Ich bin ja viel rumgekommen und habe gemerkt: Es ist kein Land wirklich besser als das andere. Alle sind dreckig. Ich kann dir nicht sagen, was mir lieber ist. Ich kann dir nur sagen, dass ich einfach gerne in meiner Heimat lebe. Immer wenn ich woanders war, habe ich das Rheinland vermisst. Das habe ich irgendwann auch so anerkannt, als ich älter geworden bin. Über verschiedene Gesellschaftssysteme habe ich viel nachgedacht und sie mir von der Nähe angeschaut. Ich habe dabei gemerkt, dass alle Heuchler sind. Jeder, der ein bisschen Wissen hat oder sich mit der Welt beschäftigt, merkt, dass alles irgendwie geheuchelt ist. Jedes Staatssystem in der Welt versucht etwas darzustellen, was es nicht ist. Jedes. Ob nun bei uns in Kurdistan, wo es Blutrache gibt, oder da, wo es das nicht gibt. Das System, das mich hier abfuckt, ist aber wahrscheinlich das einzig funktionierende System in Deutschland. Sie sollen nur kein Heiligenschein drüber tun.

Glaubst du an so was wie Gerechtigkeit?
Es ist schwer, dass Menschen das hinkriegen. Ich habe mir mal gedacht: Das einzige, was funktionieren kann, ist ein König, der ein gutes Herz hat und das Volk liebt. Dann könnte vielleicht Gerechtigkeit herrschen, weil er die Menschen wirklich liebt und alles für das Wohl des Volkes tun würde.

Trägt aber nicht jeder Mensch auch was Schlechtes in sich? Du sagst ja selber, dass alle Verbrecher sind.
Ja, kann sein, dass er ein Bastard ist, klar. Vielleicht ist aber nur sich selbst gegenüber ein Bastard. Es gibt ja Menschen, die das Wohl anderer über ihr eigenes Wohl stellen. Sowas gibt’s. Hier in Deutschland werden die Vollidioten genannt. Aber wenn man so einen als König hätte, der sich um die Probleme anderer kümmern würde, dann wäre das, glaube ich, die einzige Möglichkeit… wenn es überhaupt eine gibt. Dann hättest du nicht tausend Köche, die in einen Salat scheißen, sondern einen König, der die absolute Macht hat. Hier ist alles so lobbyistisch vergiftet. Hier wirst du Vollidiot genannt, wenn du anderen hilfst. In dieser Gesellschaft musst du ja Egoist sein, damit du was schaffst und als stabiler Businessmann anerkannt wirst: Boah, der macht gut Business, das ist ein starker und schlauer Mann. Das heißt, du bist in Wirklichkeit ein Bastard.

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