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„Los mou zue“—Wie reagiert die Schweizer Musikszene eigentlich auf die Flüchtlingsthematik?

Eine helvetische Version der „Aktion Arschloch“ ist nicht die einzige musikalische Antwort auf Hetze und Rassismus.

Foto via Flickr | blu-news.org | CC BY 2.0

Es ist wie eh und je: Während Europa in Aufruhr ist, Politiker Krisensitzungen abhalten und vor allem unsere nördlichen Nachbarn Deutschland die Grenzen auf und wieder zu, im gefühlten Dauerlauf für und gegen Asyl mobil machen, läuft bei uns alles etwas gemächlicher ab. Und unspektakulärer.

Gerade mal 18 syrische Flüchtlinge kamen vorletzte Woche mit dem ersten Zug aus Wien an. Dennoch ist von Asyl-Chaos die Rede. Die SVP—da kann sie noch so viele unbeschwerte Party-Songs raushauen—schürt vor den Wahlen die Stimmung, versuchte im Parlament vor einigen Tagen sogar das Asylrecht für ein Jahr auszusetzen. Gleichzeitig stürmt sie die Charts mit vermeidlich unbeschwerten Party-Songs, die zwar nicht explizit, aber in fröhlichen Videobildern die Aussage verkünden: Wir Schweizer sind die Besten und von Aussen kommt das Böse. Neuesten Umfragen von 20 Minuten zufolge, müssen wir mit einem klaren Sieg der Rechtskonservativen mit einem Plus von 2.4% rechnen.

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Auch wenn die Flüchtligssituation bei uns also noch deutlich entspannter ist als überall rundherum: das Thema bewegt. Und zwar—Gott sei Dank!—nicht nur in eine, rechte Richtung. Auch in der Schweizer Musikszene klingen Stimmen (und auch Instrumente), die für Toleranz und Offenheit und gegen Fremdenhass und Rassismus einstehen.

Tubel statt Arschloch

Dank der „Aktion Arschloch“ steht „Schrei nach Liebe“ seit letzter Woche an der Spitze der deutschen Download-Charts. Die Ärzte spenden dabei alle Einnahmen aus ihrem unverblümten Neonazi-Basher von 1993 an Flüchtlingsorganisationen. Auch in der Schweiz schlug die Aktion ein. Letzte Woche stand die Punk-Rock-Nummer noch auf Platz 6 der Online-Hitparade, rutschte mittlerweile aber auf Platz 15 ab (während „Welcome to SVP“ doch tatsächlich an der Spitze steht).

Quelle: Youtube

Einer Gruppe von Aktivisten reicht das aber nicht. Seit ein paar Tagen ist die Facebook-Seite der „Aktion Tubel Trophy“ online mit dem Ziel, den ebenfalls Anfang 90er veröffentlichten Anti-Rassismus-Nummer „Tubel Trophy“ der Zürcher Mundart-Punker Baby Jail in die Charts zu hieven.

Die Band begrüsst die Aktion und will ihre Einnahmen ebenfalls spenden, wie etwa der Tages Anzeiger berichtet. Und da mittlerweile der Song auch wirklich auf allen gängigen Plattformen herunterladbar ist, steht der Sache eigentlich nichts mehr im Wege. Und mit 0.99 CHF ist er verglichen zum doppelt so teuren SVP-Song erst noch ein Schnäppchen.

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Neues statt Altes

Doch nicht nur alte Songs werden wieder ausgegraben, um Position zu beziehen. Auch wenn die Anzahl an Reaktionen in Song-Form zwar noch überschaubar ist, beziehungsweise noch nicht von den Massen wahrgenommen wurde: Wenn EDM-Superstars wie DJ Antoine nichts dabei finden, wenn die SVP ihren Tune für Propaganda ausschlachtet und Altrocker wie Chris von Rohr verkappten Rassisten nach dem Maul reden, zählt jeder Song.

Quelle: Soundcloud

„Nid Mini Schwiz“ ist so ein Song. Angepisst verwehrt sich der Basler Rapper Abart darin gegen ein Land, dass auf gute Laune macht, die Stimmung nicht ernst nimmt. „Sind kei Patriote, nor e paar Idiote / imne Volk wo meh för eri Popstars vote / als ad Urne go wähle, was för ne Fähler“ dropt Nico Jucker, wie er mit bürgerlichem Namen heisst, und geisselt damit nicht nur braunes Gedankengut, sondern auch die Untätigkeit der Mehrheit.

Quelle: Youtube

Weniger aggressiv, dafür umso ergreifender, singt The Fridge den „besorgten“ Eidgenossen ins Gewissen. Die helle, feine Stimme des Zürcher Songwriters vermag einen ja sowieso schon zu Tränen zu rühren. Wenn er sich dann aber wie in „Los mou zue“ auch noch—einzig von der Akustikgitarre begleitet—an einen imaginierten Stammtisch-Rassisten wendet und dessen Argumente einzig als Pauschalisierungen und von Angst getrieben entlarvt, dann wünscht man sich mit feuchten Augen, dass dieses bescheidene Lied jedem Hetzer mal zu Ohren kommen wird.

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Taten statt Worte

Doch man muss nicht gleich von der Muse geküsst werden, um als Musikschaffende(r) ein Zeichen zu setzen. Und man muss dabei auch nicht gleich nach Budapest fahren wie Baschi Seelhofer, der zusammen mit Freunden die Aktion „Be aware and share“ gegründet hat, um vor Ort zu helfen (wie wir letzte Woche in diesem Artikel schon berichtet haben).

Etwas mehr als ein Facebook-Status oder Tweet darf es zwar schon sein, wobei natürlich das schon besser ist als nichts. Und wenn er, wie der Tweet von Sophie Hunger, dann auch noch von Patent Ochsner —immerhin eine der erfolgreichsten Schweizer Bands überhaupt und gerade deshalb sicherlich nicht nur mit weltoffnenen Fans gesegnet—auf die Homepage gestellt wird, so bezieht man wenigstens Stellung.

Quelle: Screenshot Twitter

Althergebracht aber dennoch effektiv ist das Hilfsmittel, welchem sich Navel bedienen. Die Basler Rocker schreien „Get up off your butt“ und planen eine grosse Benefiz-Show am 29. November. Das ist reichlich spät, könnte man jetzt einwerfen, hab auch ich mir zuerst gedacht, doch ohne namhaftes Band-Aufgebot, adäquate Werbung und Organisation kann sowas natürlich auch schnell nach hinten losgehen.

Überhaupt gibt es Kritiker, die sagen, solch musikalischer Aktivismus sei nicht viel mehr als heisse Luft, ein willkommenes Spotlight, um Image und Platten- bzw. Ticketverkäufe aufzupolieren. Natürlich trägt alles, was eine Figur in der Öffentlichkeit tut, dazu bei, wie diese wirkt. Hilfeleisten ist nicht nur gut für die eigene, sondern auch äussere Wahrnehmung. Ob man einen Song aber dafür zur Verfügung stellt, um einen Zeichen gegen Fremdenhass zu setzen und die Einnahmen erst noch spendet, oder ob man die egoistischen Motive einer SVP damit unterstützt und (wahrscheinlich) reichlich Kohle damit verdient, das macht mehr aus, als nur den kleinen, feinen Unterschied.

Tubel Trophy“ downloaden und damit ein Zeichen gegen Fremdenhass (und die davon bessenen Tubel) setzen könnt ihr auf allen grossen Musikplattformen oder via SMS mit dem Text „igroove trophy“ an die Nummer 900.

Weitere Klangbeispiele gegen rechts nimmt Kissi auf Twitter entgegen. Und Noisey beobachtet die Schweizer Musikszene ebenfalls auf Twitter.