FYI.

This story is over 5 years old.

Features

Wie eine politische Warnung Autechres ‚Anti‘ EP zu einem Klassiker von Warp Records machte

Autechres ‚Anti‘ EP ist dank ihrer politischen Radikalität einigermaßen legendär geworden. Zum 25. Jubiläum von Warp Records werfen wir einen Blick zurück.

Im Vorfeld des englischen Maifeiertags von 1992 hat die Polizei von Avon und Somerset es sich zur Aufgabe gemacht, das Avon Free Festival zu verhindern, eine Zusammenkunft im Freien, die bis zu diesem Zeitpunkt seit den 1970ern jährlich stattgefunden und Reisende, New Ager und Crusties aus ganz Großbritannien angezogen hat. Die Versuche, die Versammlung nicht stattfinden zu lassen, haben allerdings nur dazu geführt, dass die Leute in den Nachbarbezirk Worcestershire geströmt sind, wo sich geschätzte 25.000 Crusties und Wochenend-Raver beim Castlemorton Common zu einer Party im Freien getroffen haben, die eine Woche lang ging. Zu diesem Zeitpunkt war dies das größte Event, das die sprießende Free-Party-Bewegung in Großbritannien je gesehen hatte.

Anzeige

Die Boulevardzeitungen haben das Ganze skandalisiert und die Polizei, nicht in der Lage, eine Zusammenkunft dieser Größe aufzulösen, wurde gedemütigt. Am Ende wurden mehrere Mitglieder der Anarcho-Hippie-Ravecrew Spiral Tribe verhaftet und ihr Gefährt und ihr Soundsystem wurden beschlagnahmt. Die britische Rave-Kultur wurde sogar im Parlament diskutiert. Gesetze wurden beschlossen. Vor 20 Jahren hat die konservative Regierung von John Major den Criminal Justice And Public Order Act vorgestellt, ein radikales Gesetz, das mit seinen vielen Klauseln einen direkten Angriff auf die freie Party-Szene bedeutete. Paragraph 63 ist für den Outdoor-Rave das, was Formular 696 für das genehmigte Grime-Event in Großbritannien ist und gibt der Polizei die Macht, „eine Zusammenkunft auf einer freien Fläche von 20 oder mehr Personen […], auf der elektrisch verstärkte Musik läuft“ aufzulösen.

Um die Möglichkeit zu verhindern, dass irgendein Schlaumeier von Anwalt, sagen wir, eine 12“ von Xenophobias hirnrissiger Hymne „Rushing The House“ mit einem „Und denken Sie wirklich, dass sich so etwas ‚Musik’ nennt, euer Ehren?“ hervorholt, enthielt Paragraph 63 einen hilfreichen Absatz, der klärt, wie weit die Definition von Musik seitens des Staates in diesem Fall war: „Klänge, die vollständig oder zu großen Teilen durch die Wiedergabe einer Folge an sich wiederholenden Rhythmen charakterisiert sind.“ Diese Formulierung schien für denjenigen, der dafür verantwortlich war, wahrscheinlich unantastbar zu sein, aber Rob Brown und Sean Booth—zwei B-Boys aus Rochdale, die sich ein paare Jahre früher durch die Graffiti-Community in Manchester getroffen hatten und jetzt unter dem Namen Autechre zusammen Musik machten—haben sich Paragraph 63 genauer angesehen und ein Schlupfloch gefunden.

Anzeige

Im September 1994 haben Autechre eine neue EP auf Warp herausgebracht—Anti. Darauf fanden sich drei Tracks aus der gleichen Aufnahmesession wie der später erscheinenden LP Amber und das türkise Albumcover wurde von einem schwarzen Sticker versiegelt, auf dem folgende Nachricht zu finden war: „Warnung. Lost und Djarum beinhalten repetitive Beats. Wir warnen davor, diese Tracks zu spielen, wenn der Criminal Justice Act verabschiedet wird. Flutter wurde so programmiert, dass keine Takte identische Rhythmen enthalten und kann daher auch mit diesem Gesetz abgespielt werden. Trotzdem raten wir DJs, immer einen Anwalt und Musikwissenschaftler dabei zu haben, um die nicht-repetitive Natur dieser Musik im Falle einer Polizeikontrolle zu bestätigen.“ Die Musik auf Warp hat selten den Eindruck vermittelt, dass sie explizit politisch ist, aber Anti schien Satire vom feinsten zu sein, gleichzeitig wütend und clever. Indem man das Siegel bricht, warnte der Sticker weiter, „übernimmt der Hörer die volle Verantwortung für jegliche Konsequenzen, die durch die Nutzung dieses Produkts entstehen können“. Brown und Booth meinten es aber auch ernst. Alle Erlöse aus dieser Platte sollten der politischen Interessengruppe Liberty zugute kommen und die Verlautbarung endete mit einem finalen Statement: „Autechre sind politisch unabhängig. Hierbei geht es um die persönliche Freiheit.“ Autechre waren nicht die einzige Gruppe in Großbritannien, die eine künstlerische Antwort auf den Criminal Justice Act parat hatte. „Their Law“ von The Prodigy und „Repetitive Beats“ von Retribution, einer Dance Supergroup, bei der Leute von Fun-Da-Mental und System 7 dabei waren, waren beide direkt oder indirekt von dem Gesetz beeinflusst. Es ist schwer, einen Präzedenzfall für einen Track wie „Flutter“ zu finden: einen musikwissenschaftlichen Protestsong, der repressive Gesetzgebung nicht durch Punk-Gehabe, sondern Subversion, die im Studio entstanden ist, untergräbt. Und als Track knallt er einfach. Glasige Melodien schweben wie ein Nordlicht über einem Tumult aus peitschenden Snares und punktierter Bassdrum, die sich zu immer komplexeren Strukturen zusammenziehen. Das Geniale an „Flutter“ ist, dass der Track, obwohl er angeblich aus einer Folge von 65 verschiedenen Drum-Patterns besteht, repetitiv klingt; er bewegt sich flüssig und flink, driftet nie in Abstraktion ab oder verpasst einen Beat. Sorgfältig erschaffen, liefert er präzise sein politisches Statement. „Lost“ und „Djarum“ hingegen erforschen etwas anderes Territorium: Ersterer ist ein melancholisches Stück, das von einem Hauch Gesang und spärlichen Synthesizern verfolgt wird; letzterer kontrastiert das ganze Kratzen mit Schönheit, als würde es sich auf den Stil, den Aphex Twin im folgenden Jahr mit „I Care Because You Do“ erforschen sollte, freuen.

Anzeige

Brown und Booth haben ihr Debüt für Warp Records zwei Jahre vorher mit zwei Tracks auf der bahnbrechenden Artificial Intelligence-Compilation des Labels gegeben (auf der auch Alex Paterson, Speedy J und Richard D James unter seinem Pseudonym Dice Man zu finden waren). Die Compilation, mit ihrem Cover, auf dem man ein Avatar der Virtual Reality mit einem Joint in der Hand sieht, das sich zu Platten von Pink Floyd und Kraftwerk entspannt, erschien neben den Dreadlockträgern der Free-Party-Szene eher urban und zivilisiert und die darauf vertretenen Künstler wurden zu so etwas wie dem Who Is Who für das, was—zumindest in den USA—mit dem unglücklichen Namen Intelligent Dance Music bezeichnet wird. In einem kurzen Interview, das im Inneren der CD abgedruckt wurde, nennen Autechre Edgar Froese und Chris Franke von den kosmischen Krautrock-Pionieren Tangerine Dream als Einflüsse und das kannst du auf ihren beiden Beiträgen zu der Compilation—„Crystel“ und „The Egg“—definitiv hören: harte Elektro-Rhythmen treffen dort auf kristallene und schöne Synthesizer-Melodien. Einen klaren Verlauf in der Karriere von Autechre ausmachen zu wollen ist vielleicht vergebene Mühe, aber wenn man sich ihre Diskografie anschaut, dann scheint die Anti EP so etwas wie ein Wendepunkt zu sein; eine Art Verbindungsstück zwischen dem Ambient-House der ersten Arbeiten und der trockenen, fremdartigen Computermusik, die darauf folgen sollte. Tatsächlich macht es einen Unterschied wie du „Flutter“ abspielst. Auf der CD-Version ist der Song in einer Geschwindigkeit, die 45rpm entspricht, zu hören. Aber auf dem Cover der Vinyl-Version schlagen Autechre vor, dass man die Platte entweder auf 33 1/3 oder 45 Umdrehungen spielen kann. Wenn man sie auf 33 hört, dann ist es eine hübsche Angelegenheit, im Einklang mit den verträumten Abschweifungen von Amber. Auf 45 läuft es mit flotten 140bpm—was wahrscheinlich nicht durch Zufall der Geschwindigkeit von frühem Breakbeat-Rave entspricht, bevor die härtere und schnellere Gangart von Hardcore das Tempo erhöht hat—und weist damit den Weg in die Zukunft von Autechre: die dunklen und jagenden, abstrakten und gnomischen Melodien, die sich auf den Platten LP5 und EP7 finden. Castlemorton mag für die freie Partyszene so etwas wie ein Todesurteil gewesen sein, aber 1994 waren Autechre, ähnlich wie die anderen Künstler auf Warp, sowieso auf anderen Pfaden unterwegs. Im Jahr nach Anti wurde ihre Musik noch tiefer und sie haben etwas zeitloses und nicht datierbares erschaffen, von kaputter Hardware und generativer Software, den radikalen Formen des Architekten Santiago Calatrava und der Spieltheorie des Mathematikers John Horton Conway beeinflusst. Konzerte haben sie in kompletter Dunkelheit gespielt, um die Einflüsse der Umgebung zu eliminieren und den Fokus auf die Musik zu lenken und Komplexität wurde zu so etwas wie einem Leitbild, was zu solchen Veröffentlichungen führte wie Confield von 2001 oder Gantz Graf von 2002 —die Schönwetter-Fans vielleicht für undurchdringlich halten mögen.

Anzeige

Selbst als Autechre sich noch weiter in abseitige Sphären begeben haben, haben sie ihre emotionale Resonanz behalten, ein Herz im inneren des Glitchs. „Wenn es um Emotionen in der Musik geht, denken Leute oft nur an fröhlich oder traurig“, schrieb Sean letztes Jahr auf dem Musikforum We Are The Music Makers, „aber meiner Meinung nach sind Emotionen so viel mehr als das“. In diesem Zusammenhang kann man auch die Album- oder Songtitel—„Inhake2“, „Piobmx19“, „Cap.IV“—als Mittel zur Befreiung vom Eigengewicht der Sprache verstehen, als eine Basis von der aus man neue Gefühle, unnatürliche Energien und unmögliche Strukturen erdenken kann. Anti sticht im Katalog von Warp Records aufgrund der politischen Dimension heraus. Warps umnachtete Position in den 1990ern, zusammen mit ihrem distinktiven Branding und den intellektuellen Tendenzen der darauf vertretenen Künstler, haben oft dazu geführt, dass das Label als losgelöst von allem anderen wahrgenommen wurde: hermetisch abgeriegelt von der restlichen Welt der Dance-Musik. Politik war im Großen und Ganzen nicht ihr Ding. Also gibt es etwas auf seltsame Weise Befriedigendes daran, dass die Lieblingsgruppe der Warp-Puristen, ein Duo, dessen Musik oft kurzgeschlossenen Androiden glich, sich für Bürgerrechte stark gemacht hat. Aber auch ohne die politische Dimension würde Anti herausstechen. In den sich verändernden Rhythmen von „Flutter“ kann man Booth und Brown bei etwas hören, was sich anhört wie die Essenz von Autechre: den Klang einer Gruppe, die verspricht, sich nie zu wiederholen. Warp Records wird dieses Jahr 25 und sie machen einige großartige Partys, um das zu feiern. Folgt Louis Pattison hier bei Twitter: @louispattison

Anzeige

Dieser Artikel erschien zuerst auf Thump.

**

Folgt Noisey bei Facebook und Twitter.


MEHR VON NOISEY

Der Soundtrack zu all meinen beschissenen Jobs

Vom Einzelhandel bis zur Baustelle musste ich diese Songs ertragen

Schau dir in Futures neuem Musikvideo „Coupe" die animierte Version seines Straßenrennens gegen den Teufel an

Wir präsentieren euch den Song und das dazugehörige Video des Auto-Tune-Rappers Future. Der Typ ist auch animiert schön.

31 inspirierende Zitate von Musikern über Musik

"I love music" - will.i.am