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Captain Ashi—Unterwegs im räudigen Band-Kosmos

Wie betrunken du noch auf die Bühne gehen kannst

Für Musiker ist es ein schmaler Grat zwischen „angetüdelt die Hemmschwelle senken“ und „im Delirium ein Konzert versauen“. Hier eine Analyse zu dem Problem, inkl. hilfreichem Diagramm.

Anm. d. Red.: Willkommen in der Welt der Musiker, willkommen in der Backstage-Hölle. Ab heute wirst du hier regelmäßig Beiträge von unserem neuen Kolumnisten Hannes Naumann finden, der seines Zeichens Mitglied der Audiolith-Band Captain Capa ist und zudem ein begnadeter Schreiberling und Pro­to­kol­lant des turbulenten Musikerlebens auf Tour, im Backstage und in den dreckigen Ecken des Ruhmes. In der ersten Ausgabe erklärt Hannes in Bild und Wort, wie betrunken du sein darfst, wenn du auf die Bühne gehst.

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Für eine Band gibt es oft kaum etwas Schöneres, als angetrunken auf die Bühne zu gehen und ein Konzert zu spielen. Es gibt aber auch kaum etwas Schlimmeres, als komplett besoffen auf die Bühne zu gehen und ein Konzert zu spielen. Himmel und Hölle liegen hierbei gefährlich nah beieinander und nicht selten gießt man sich dann doch den einen Kurzen zu viel hinter die Binde, der den Auftritt vor 46 Leuten im AJZ Bad Biberau zur Katastrophe werden lässt.

Als Pseudo-Straight-Edge-Lümmel habe ich verhältnismäßig lange durchgehalten und meine gesamte Jugend genussmittelfrei an mir vorbei ziehen lassen. Während meine Kumpels mit 15 zum ersten Mal in ihrem Erbrochenen lagen, habe ich brav den erhobenen Zeigefinger gespielt und schelmisch an einer Coke genuckelt. Ja, ich war der Typ. Heute bin ich froh, dass das so lange funktioniert hat—es verschaffte mir nämlich einen gesundheitlichen Vorsprung von ca. fünf Jahren, den meine Alkoholikerkollegen aus den Backstages dieser Welt nicht haben. Trotzdem ging es später rapide bergab. Vollrausch in der Dorfdisko, das erste Mal auf dem Familienfest gekotzt, Pfeffi-Trichter auf irgendeinem Festival. Die Gründung von Captain Capa und das daraus resultierende Einzecken in das Hamburger Revoluzzer-Label Audiolith hat dann den Nagel in den Sarg gekloppt. Umgeben von Künstlern, die mit 2,8 auf dem Kessel schon ihre eigenen Konzerte verpasst haben und einem Labelchef, der mir nach zwei Flaschen Sauerkirsch auf der Bühne eine Ohrfeige of Love verpasst hat, war klar: Besoffen sein gehört auf Tour zum guten Ton und ausufernder Alkohol-Exzess ist nichts, für das man sich schämen muss.

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So wurde es schnell zum Ritual, sich schon vor der Show die obligatorischen zwei - drei Jägermeister rein zu knallen, um on stage ein bisschen lockerer zu werden. Denn ungelogen funktionieren Konzerte mit leichter Intoxikation besser als komplett nüchtern. Also wo liegt hier bitte die goldene Mitte und wie besoffen darf man überhaupt sein, wenn man eben nicht mit der frisch gegründeten Punkband im besetzten Haus spielt, sondern mit dem sorgsam gepflegten Elektropop-Projekt in der sorgsam gepflegten Konzerte-Venue für 400 Leute? Eine Frage, mit der ich mich seit Jahren gemeinsam mit meiner besseren Band-Hälfte Maik Biermann experimentierfreudig beschäftige.

Nüchtern Konzerte spielen

Manchmal muss es einfach sein. Du willst ein, zwei neue Songs ausprobieren, ein Fernsehteam zeichnet deine Show auf, im schlimmsten Fall wurdest du heute zum Fahrer gekürt und musst den Rest der Jungs nach dem Konzert nach Hause shuttlen. Nüchtern auftreten ist leider nur geil, wenn du auf einer wirklich guten Veranstaltung spielst—sagen wir ein großes, fettes Festival mit all deinen Lieblingsbands—dazu hoch motiviert bist und den ganzen Tag schon auf einem „natural high“ herumfliegst. Wenn es aber auch nur an einer dieser Voraussetzungen scheitert und du trotzdem nüchtern aufs Parkett musst, mach dich auf einen verkrampften Höllenritt gefasst.

Die Nachteile: Das Publikum wird sich heute nicht über deine Ansagen kaputt lachen, wenn du von einem Schenkelklopfer in den nächsten stolperst. Also resigniert „den Hit“ abfeuern und Klappe halten. Das Schwein „Hemmschwelle“ zeigt sich von seiner dreckigsten Seite. Du fühlst dich etwas unsicher, denkst über jeden Move und jedes Knöpfchen-Drehen viel zu lange nach und vergisst dabei, dass es hier auch irgendwie um Spaß geht.

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Die Vorteile: Du kannst dich endlich mal auf die neuen Texte konzentrieren und triffst sogar die schwierigen, hohen Töne im Refrain. Glückwunsch!

Angetrunken Konzerte spielen

Der Normalzustand. Vor der Show mit dem Veranstalter am Tresen einen zwitschern, den Kräuter mit Wodka-Bull runter spülen und dann angetüdelt ans Mikro—geil! Uralte Muckertradition, da sind sich aufstrebende Pop-Newcomer, angegraute Metalbands und die Coverrock-Kapellen vom Dorf einig. Ein bisschen Alkohol muss sein.

Die Vorteile: Das eiserne Gerüst der Professionalität fängt zwar schon leicht an zu wackeln, dafür flutschen die Ansagen, denn du sprichst die Sprache des ebenfalls mindestens angetrunkenen Publikums. Du traust dir Dinge zu, die du dich mit Null Promille nicht gewagt hättest: Das blöde Synthie-Solo mal nur mit einer Hand spielen, eben doch mal auf den Schlagzeug-Riser klettern und wieder runter hüpfen, auf die schwierige, hohe Stelle im Refrain scheißen und einfach was Interessanteres drüber improvisieren! Der Blick zum Band-Kollegen bestätigt es, ihr seid ganz in eurem Element und habt gerade tierisch Bock.

Die Nachteile: Nach zwei, drei Songs ebbt der leichte Rausch schon wieder ab, denn das Adrenalin hat den Schnaps verdrängt und der halbe Jägermeister wurde schon durchs Haupthaar wieder rausgeschwitzt. Außerdem passieren dir erste Fehler. Du kommst aus Versehen auf den falschen Knopf, verspielst dich beim einhändigen Synthiesolo (was für eine bescheuerte Idee) oder kommst beim Gitarrespielen kurz aus dem Takt. Die Fans haben sich außerdem auf die eine, hohe Stelle im Refrain gefreut und du Idiot hast irgendwas drüber improvisiert.

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Besoffen Konzerte spielen

„Ups.“ stößt du auf, als du aus dem Dunkel in den Scheinwerfer trittst und auf die Keyboards und den Laptop schaust. „Doch ganz schön straff.“ Das waren wohl ein bis zwei lokale Likör-Raritäten zu viel. Die Bühne dreht sich unter deinen Füßen und du findest die Scheiß-Setlist nicht, weil du kaum geradeaus gucken kannst. Jetzt tief durchatmen, noch einmal den Anderen vorwarnen („Scheiße Maik, ich bin total besoffen.“ „Herrlich, ich auch!“) und dann Augen zu und durch.

Die Überraschung—es läuft wie geschmiert. Du bist schon beim ersten Song so aufgedreht, dass dir völlig egal ist, ob das Publikum überhaupt bereit dafür ist. Du schmeißt dir das Mikrofonkabel um den Hals, schaust wie ein Gestörter in die Menge, springst auf und ab und triffst trotzdem fast jeden Ton. Irgendwann fliegst du dann aber zum ersten Mal über das Kabel vom Sound-Interface und ein brutal lautes Knack-Geräusch in den Boxen holt dich aus deiner Traumwelt, gefolgt von Stille. Musik aus. Hektisch fummelst du an den Kabeln herum, prüfst jede einzelne Buchse, nur nicht die richtige. Du wünschtest, du könntest die Fehlerquelle erkennen, aber der lose Kabelsalat unter dir dreht sich immernoch in alle Richtungen. Minuten vergehen. Beim fünften Versuch dann das richtige Kabelende erwischt. Der Beat pumpt wieder durch die Anlage. Angeheizt von dem Adrenalinschock dieses Unfalls und dem Willen, den Fauxpas wieder gut zu machen, gibst du jetzt erst recht Vollgas. Du spielst die Show deines Lebens und wirst erst beim zehnten Song langsam wieder nüchtern.

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Die Vorteile: Du bist die unantastbare Lichtgestalt, die du auf der Bühne immer sein wolltest. Das Publikum frisst dir aus der Hand und ein paar Tresenkräfte gucken schockiert. Endlich wieder ein bisschen Rock’n’roll! Eure Songs klangen nie so gut wie heute Nacht und wahrscheinlich hat gerade irgendjemand in der Crowd einen Orgasmus.

Die Nachteile: Die Hälfte davon hast du dir wahrscheinlich nur zurecht fantasiert. Du vergisst im Taumel ständig, Effekte wieder auszuschalten, bringst die Setlist durcheinander und spielst das bescheuerte Synthiesolo einen Halbton daneben, weil: einhändig. Deine explosiven Ansagen findest wahrscheinlich nur du so richtig witzig und nach der Show fragen dich Freunde, warum du so irre viel Hall auf der Stimme hattest und heute so viel rum experimentiert hast. Irgendjemand wird schließlich jede Resteuphorie killen und sagen: „Der eine Refrain klang irgendwie nich so wie auf der CD.“

Dieses wissenschaftlich ausgefuchste Diagramm zeigt anhand einer Show im Berliner SO36 wann der perfekte Moment ist, auf die Bühne zu gehen, wenn du vorhast, dich vorher durchweg zu betrinken.

Komplett im Delirium Konzerte spielen

Es kann durchaus vorkommen, dass der Geburtstag eines guten Freundes auf einen Show-Termin fällt, die Spielzeit deiner Band sich überraschend von 23:00 Uhr auf 02:30 verschiebt oder dir die Veranstaltung so schrecklich erscheint, dass du schon am Nachmittag anfängst, dir die Venue schön zu saufen. Vielleicht bist du auch einfach richtig böse in Feierlaune und hast vergessen, dass du irgendwann heute Nacht auch noch auftreten musst. Dann kann es passieren, dass du pünktlich zur Showtime schon so lattenstramm bist, dass man dir eigentlich kein Mikrofon mehr in die Hand drücken sollte. Solche Fälle enden fast immer in einem Debakel, aber nichts ist unprofessioneller, als ein Konzert wegen Volltrunkenheit abzusagen.

Also ziehst du knallhart durch und lässt dich von deinem Tontechniker auf die Bühne schieben. In dem Moment, in dem du eine Begrüßung in Richtung Publikum lallst, merkst du, dass hier was nicht stimmt. Deine Wörter kommen eine Sekunde zu spät aus dem Mund, was beim Singen noch zum richtigen Problem werden soll. Du gibst das mit den Ansagen auf, winkst ab und lachst dich kaputt, während du den ersten Song startest. Alles, was du ab jetzt tust und singst passiert rein motorisch. Dein Körper kennt die Moves auswendig, deine Finger wissen, was sie drücken müssen und sogar dein löchriges Hirn hat die meisten Lyrics noch auf Abruf. Aber die Maschine läuft auf halber Kraft. Als der vierte Song vorbei ist, stellst du fest, dass du dich an die ersten drei schon gar nicht mehr erinnern kannst. Du schaust in verwirrte Gesichter und betest zum Blitzlicht, dass du der Menge keine Scheiße erzählt hast. Eigentlich findest du das trotzdem alles irre witzig, besonders dich selbst. Weshalb du vor dem nächsten Track einen zweiminütigen Monolog hältst.

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Ein Konzertbesucher schreit „Halt die Schnauze und spiel!“. Die Stimmung kippt, als du ihm den Mittelfinger entgegenstreckst, ohne dir sicher zu sein, wo der Typ eigentlich steht. Nach dem Auftritt bist du wesentlich nüchterner, doch die Schande sitzt dir im Nacken. Schnell den Tontechniker ins Büro schicken, um die Kohle zu kassieren und dann ab ins Hotel, bevor dich die Dorfjugend für den Mittelfinger verkloppt.

Die Vorteile: Diese Katastrophe hast du am nächsten Morgen vielleicht schon wieder vergessen. Wenn im Vornherein schon klar ist, dass dir ein schrecklicher Abend bevorsteht (ihr werdet vom Club-Chef gefragt, ob ihr Gogo-Tänzerinnen neben euch wollt, auf der Bühne ist gerade Public Viewing vom Deutschland-Spiel, der Veranstalter dachte, ihr seid Djs, etc.) ist diese Option oftmals deine letzte Rettung. Bügel dir richtig hart einen rein, reiß dein Set ab, streich die Kohlen ein und lass dich hier nie wieder blicken.

Die Nachteile: Wo wra dohc gleich die shcwierriege Stelle iim Rferain? Bis auf ein paar Die-Hard-Fans hast du den Groll aller Gäste auf deiner Seite. Wahrscheinlich geht dir bei der Aktion ein Synthie kaputt und beim Abbauen hast du mal wieder das teure Firewire-Kabel im Club liegen lassen. Kauf dir ein neues, denn in dem Laden hast du wahrscheinlich Hausverbot.

Verkatert Konzerte spielen

Der absolute Tiefpunkt. Nichts ist schlimmer. Nach zwei Nächten gnadenlosen Abschusses sitzt du in deinen stinkenden Klamotten in einem viel zu kleinen Auto auf dem Weg zum nächsten Gig. Du kratzt mühsam jede Minute Schlaf zusammen, die du in dieser räudigen Karre auf der Autobahn noch kriegen kannst. Auf der Veranstaltung angekommen, begrüßt du den freundlichen, über-enthusiastischen Veranstalter mit müden Augen und einer ekelhaften Fahne aus Korn und Powerade. Dein Merchandise-Verkäufer kriecht dir hinterher und hat tatsächlich immer noch Kotze auf dem T-Shirt und Glitzer im Gesicht. Alle Beteiligten schämen sich wahnsinnig für diesen Anblick, aber daran kann jetzt keiner mehr was ändern.

Als du deinen trägen Körper auf die Bühne schleppst und die Scheinwerfer angehen, möchtest du eigentlich nur noch eins: sterben. Mit kratziger Stimme erzählst du deinen Fans, „dass wir's gestern ein bisschen übertrieben haben“ und gibst dann trotzdem alles, was geht. Das Blitzlicht ballert dir plötzlich so böse ins Gesicht, dass dir genau jetzt der Geschmack von dem seltenen Zitronen-Schnaps aus Österreich wieder einfällt, von dem du dir gestern auf die Schuhe gebrochen hast. Dir wird kurz schwarz vor Augen. Du bist ein Häufchen Elend und alle können sehen, was für ein Schwein du gestern warst.

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Die Nachteile: Ernsthaft?

Die Vorteile: Aufgepasst! Das ist zwar alles ganz, ganz schlimm und fühlt sich verdächtig nach Herzinfarkt an, aber bemerkenswerterweise ist das eben auch die beste Art, den Hangover loszuwerden. Ich weiß nicht, welche magischen Vorgänge während eines Auftrittes so im Körper stattfinden, aber ich verspreche dir, dass nach der Hälfte des Konzertes Besserung in Sicht ist. Im Idealfall kommst du noch auf der Bühne wieder zu Kräften und besinnst dich auf deine verdammte Aufgabe. Pack den Kater am Genick und nutze dein klägliches, schmerzverzogenes Alkoholleichen-Gesicht für die Emo-Parts in der Mitte des Songs. Alles wird gut. Danach aber Kontrastprogramm mit Wasser und Kopfschmerztablette.

Du siehst, Konzerte spielen und Trichtersaufen geht nicht immer gut zusammen. Aber manchmal. Ich habe einige meiner besten Konzerte gespielt, während ich ziemlich hart im Lack war, und einige, ohne auch nur ein halbes Bier zu trinken. Der Trick ist, die Gegebenheiten auf dem Schlachtfeld vor Ort einzuschätzen und sich vorsichtig auf einem angenehmen Level einzupendeln.

Merke außerdem: Wenn der Gig schon begonnen hat und du noch nicht ganz auf der Höhe bist, kannst du locker mit einem Kurzen auf der Bühne nachjustieren. Andersrum ist das leider nicht drin, es sei denn du steckst dir auf der Bühne den Finger in den Hals. So Punk sind wir dann aber doch nicht.

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