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Welche Musik hören eigentlich SBB-Kondukteure?

Leider hören viele Charts, aber es gibt Hoffnung für Kondukteure: Bob Marley, Vivaldi und The White Stripes.
Alle Fotos von Benjamin von Wyl

„Billet vorwiise!" „Döft ich ächt no Ihres Halbtax gseh?" SBB-Kondukteure gehören zu den Menschen, die jeder in der Schweiz wahrnimmt. Wer nie wegen Arbeit, Ausbildung oder Trunkenheit in einem Zug sitzt, sieht die Kondukteure trotzdem noch zwei Mal pro Jahr: Vielleicht einmal auf dem Weg zum grossen Treffen der Zeugen Jehovas im Hallenstadion, das andere Mal im Sonderzug zur nationalen Nordic Walking-Meisterschaft.

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Obwohl wir sie regelmässig sehen, wissen wir kaum was über Kondukteure. Sie haben dezente Uniformen. Sie sind rigoros bis freundlich bestimmt, wenn jemand kein Ticket hat. Und einige von ihnen lesen die französischen und englischen Ansagen bei der Einfahrt in einen Bahnhof wohl ab. Ein einziges Mal führte ich ein längeres Gespräch mit einem Kondukteur: Als ein sehr guter Freund kurdischer Abstammung über den Völkermord an den Armeniern und der Position Erdogans referierte, stieg der vorbeikommende Kondukteur in breitem Glarnerdeutsch darauf ein und hörte nicht mehr auf. Dieser Kondukteur war um das Völkerrecht bekümmert.

Bei meiner Umfrage zu ihrer Lieblingsmusik haben sich die gefragten Kondukteure aber ungern exponiert. Alle sagten erst nach der dritten oder vierten Rückfrage etwas anderes als „Ich lose alli Musig." Und manche blieben auch dann noch stur und unkonkret. Hier die pointiertesten Antworten:

1. Thurgauer Blasmusik

Dieser Kondukteur war ein gesetzter, korrekter Mann, der sich in Thurgauer Dialekt durch die Gänge fragte: „Billet vorwiise!" Unser Zug hatte schon 16 Minuten Verspätung: Niemand sollte bei der Fahrt also noch Zeitdruck haben. Während er mein GA inspizierte, fragte ich ihn. Natürlich antwortete er erst mit „Eigentlich alli Muusig." Aber nach der zweiten Rückfrage „Ich cha Ihne da scho säge, aber es wird Sie hässig mache." Wieso sollte mich sein Musikgeschmack wütend machen? „Ich lose, um ehrlich z sii … Ich lose vor allem Thurgauer Blosmusig." Ist doch sympathisch—Rechtsrock hätte mich eher wütend gemacht.

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2. Headhunterz – Hard With Style

Der Schweizer Noisey-Schreiber Daniel Kissling und ich waren in Zürich aus dem Gonzo gestolpert. Auf dem Weg zum Bahnhof versprachen wir uns Liebe und Zuneigung auf heterosexueller Basis und spielten mit der Weihnachtsdeko bei der Europaallee. Im Bahnhof warteten wir auf den ersten Zug und plünderten den Selecta-Automaten. Im Zug setzten wir uns auf die Rutsche im Familienspielplatz-Wagen und machten Fotos. Irgendwann kam der Kondukteur. Der Kondukteur war unsicher (oder müde) und kaum 20. Seine Lieblingsmusik: „Hardstyle isch min Sound!" Das machte uns sehr glücklich.

3. „Alles, was i de Charts isch."

Der Tiefpunkt meiner Umfrage war eine Kondukteurin auf der Strecke zwischen Basel und Bern. Ich fragte nach und nach. Sie konnte oder wollte nichts anderes sagen als „Alles, wo i de Charts isch!" Aber irgendwann suchte sie Support bei den anderen Zugreisenden: „Frogt mich dä eifach, was i für Musig loose! Und i han gseit: Charts. Charts. En Umfrog bi Kondukteure—so öppis." Alle lachten; ich hab mich geschämt. Aber was man ihr lassen muss: Sie hat ihren Musikgeschmack immerhin auf die Charts eingeschränkt. So entschieden waren längst nicht alle Kondukteure.

4. Eric Clapton & The White Stripes

Im Gegensatz dazu war der glatzköpfige Kondukteur mit voluminösem Schnauz geradezu ein Aficionado. Ihn traf ich am Bahnhof Zürich an und sein Zug musste direkt los. Den Pfiff zur Abfahrt machte er, während ich ihn fragte. Trotz dem Zeitplan drehte er sich im Einsteigen um und rief: „Bluesrock! Bluesrock von Eric Clapton bis The White Stripes. Eifach nur Bluesrock." Wow—ein Kondukteur, der seine Musik liebt. Ich stelle mir vor, dass der Kondukteur, der aussah wie eine jüngere Version von Lukas dem Lokomotivführer, die Gitarre auf der Fahrt immer dabei hat. Nach Arbeitsende, egal ob in Basel, Lausanne oder St. Gallen, schultert er die Gitarre und geht zum Jam ins Kneipenhinterzimmer. Es gibt Hoffnung für den Berufsstand des Kondukteurs.

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5. Bob Marley und Vivaldi

Auch dieser Kondukteur, sogar ein „Zugchef" wie das Schild auf seiner Uniform verriet, drückte sowas wie Leidenschaft aus. Mittelalt, Romands-Akzent, die Plakette der Eisenbahnergewerkschaft SEV am Revers. Zwar antwortete er erst auch mit „Ich höre alles." Aber er war sehr interessiert, hakte nach, weshalb ich das denn wissen wolle. Und so hakte ich auch nach, fragte nach Stilen und er antwortete „Von Reggae bis Klassik! Alle Musik ist gute Musik." Ich frage nach Bands: „Wenn ich Reggae höre: Bob Marley! Bob Marley & the Wailers! Wenn ich Klassik höre, zum Beispiel Vivaldi." Er redete sich in Begeisterung und ich glaubte ihm die Begeisterung. Ich freute mich so sehr, dass Kondukteure eben mehr als nett sein können.

Kondukteure müssen den ganzen Tag freundlich nachfragen, sich Ausreden von Schwarzfahrern anhören und gestresste Pendler beruhigen, die ihren Anschluss verpassen. (Wahrscheinlich gehört noch viel mehr und auch mehr Verantwortung zu ihrer Arbeit.) Es ist schön, dass manche von ihnen, wenn sie ausspannen wollen, nicht einfach „Charts" hören. Es ist schön, dass die Handylautsprecher, die durch die Züge plärren, nicht auf den Musikgeschmack von jedem von ihnen abstrahlen.

Benj auf Twitter: @biofrontsau