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Es gibt keinen Grund, Weihnachtsmusik zu verschenken

Wer das Helene-Fischer-Weihnachtsalbum hören will? Flippige Sparkassen-Angestellte, sobald der dritte Apfelkorn einschlägt und die Polonaise beginnt.

Es ist jedes Jahr das Gleiche: Zuerst beschweren sich auf Facebook ein paar notorische Konsumverweigerer, dass jetzt gefühlt schon im Juli die ersten Lebkuchen und Dominosteine in den Regalen der Supermärkte stehen. Dann wird in den Nachrichten verkündet, dass der Einzelhandel unzufrieden mit dem bisherigen Verlauf des Weihnachtsgeschäfts ist. So weit so gut. Um die Sendezeit der TV-Anstalten zu füllen, werden anschliessend ein paar Polizisten mit einem Kamera-Team auf Weihnachtsmärkte geschickt, um mahnend zu zeigen, wie leicht es Taschendiebe in diesem Land haben, ein "Glühwein-Experte" testet den Billig-Alk in kleinstädtischen Fußgängerzonen und schlussendlich meldet der Verband der Einzelhändler dann doch noch Rekordumsätze. Jahr für Jahr die selbe Nummer. Wie man das nennt? Richtig, Weihnachten.

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Und was darf an diesem Fest der Liebe, der Besinnung und des Innehaltens nicht fehlen? Fangen wir der Reihe nach an: In jeder normalen Familie wird – ähnlich wie auf dem schwächsten Familienmitglied – auf irgendeiner armen Gans rumgehackt. Außerdem heult ein entfernter fünfjähriger Cousin, weil er das falsche LEGO-Raumschiff bekommen hat, eine bucklige Tante zweiten Grades betrinkt sich heillos und fällt in den Tannenbaum und die demenzkranke Nazi-Oma erzählt, dass sie als Kind zufrieden, war wenn es zu Weihnachten zwei Mandarinen und nur eine Ohrfeige gab. So weit, so normal. Jeder gesunde Mensch zwischen 16 und 30 Jahren mit Verkehrsanbindung, flüchtet spätestens um 23 Uhr und betrinkt sich auf irgendeiner "Weihnachtsparty", die nichts mit Weihnachten zu tun hat, abgesehen davon, dass verdächtig viele Gäste Pollunder tragen. Wenn ihr richtig Glück habt, schickt irgendein Opa auch noch einen Briefumschlag mit 20€ darin – immerhin zwei bis vier Drinks an der Bar eures Vertrauens.

Bis hierhin sind wir uns einig, oder? Und deshalb gibt es eine entscheidende Frage, die bisher nicht geklärt wurde: Wer zur Hölle kauft all diese besinnlichen Weihnachtsalben mit denen die Musikindustrie alljährlich den Markt überflutet und was erwartet euch auf den Feiern mit der entsprechenden Musik? Gibt es tatsächlich Menschen, die Freude dabei empfinden, Christina Aguilera zuzuhören, während sie übermotiviert Kindergartenlieder wie "Jingle Bells" knödelt und den relativ simplen Song auf gefühlte 150 Oktaven ausdehnt? Schauen wir uns doch mal an, was dieses Jahr so für großartige "Lass mal vor Weihnachten noch schnell ein paar Euros verdienen"-Mucke unter dem Weihnachtsbaum, respektive in den CD-Spielern (Ja, ich bin alt) der österreichischen Wohnzimmer liegt und wagen den Versuch, diese Menschen in Kategorien zu unterteilen. Wenn ihr gerne Weihnachtslieder hört oder generell etwas empfindlich seid, wäre jetzt vielleicht der Zeitpunkt abzubrechen oder pro forma einen wütenden Kommentar auf Facebook zu verfassen. Irgendwas à la "Sie sind noch viel irrelevanter als die Musiker, die sie beschimpfen und haben bestimmt überhaupt keine Freunde" kommt immer gut an. Let’s go.

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Da wäre zuerst natürlich Helene Fischer mit ihrem Christmas-Geraunze. Wer das kauft: Menschen, die weder verstehen, dass eine CD mit Weihnachtsliedern als Geschenk genauso kreativ ist wie ein mittelmässiges Parfüm von Kebabteller Versace oder ein paar Socken mit Rentier-Aufdruck, noch Lust haben, sich Gedanken darüber zu machen, was anderen Menschen wirklich gefällt. Sprich: Muttis, die ihre Gothic-Tochter auf den richtigen Weg bringen wollen und Puff-Gänger, die ihrer Frau das letzte Mal zugehört haben, als sie sie beim ersten Aufeinandertreffen in einer Dorfdiskothek gefragt haben, ob sie vielleicht ein Bier trinken will – also ein ziemlich großer Teil der Bevölkerung. Dazu noch ein paar flippige Sparkassen-Angestellte, die mit ihrem Zungenpiercing gegen die spießige Welt ihrer Kleinstadt protestieren und deshalb statt Karel Gott lieber Helene hören wollen, wenn der dritte Apfelkorn einschlägt und die Polonaise beginnt. Oder einfach Helene Fischer-Fans. Also Muttis, die ihre Gothic-Tochter auf den…Ihr kennt das Spiel. Ergo: Ihr solltet flüchten, so schnell ihr könnt.

Für die Ü40-Fraktion gibt es "Songs for Christmas“ von Ella Fitzgerald. Das spricht eher das Bildungsbürgertum an. Wer Ella Fitzgerald hört, der trinkt einen mittelguten Rotwein, erzählt seit Wochen von dem guten Hirschbraten, den es Heiligabend geben wird und dreht dann völlig am Rad, weil die Familie das gute Stück Fleisch nicht zu würdigen weiß. Außerdem wird die 23-jährige Tochter bedrängt, sich doch endlich mal einen Ehemann zu suchen, die Nachbarn tuscheln ja schon. Zusätzlich erzählen diese Menschen zwanghaft traumatische und moralisch fragwürdige Weihnachtsmärchen wie etwa "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, obwohl der Nachwuchs mit sämtlichen Spielekonsolen dieses Planeten beschenkt wurde und mit von Speichel triefenden Mundwinkeln in Richtung der Xbox starrt, um endlich hunderte Zombies abmurksen zu dürfen. Wenigstens heute soll es mal heimelig und gebildet zugehen. Alles in allem also ziemlich gediegene, ordentliche Menschen. Und da sind die Abgründe bekanntlich am tiefsten, also ergreift auch hier so schnell wie möglich die Flucht, bevor euch jemand fragt, ob ihr zu Roger Cicero "eine flotte Sohle auf’s Parkett legen wollt“. Vielleicht täuscht ihr vor, dass ihr noch ehrenamtlich in einem Obdachlosenheim arbeiten müsst, das kommt in solchen Kreisen immer gut.

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Für alle Partykanonen gibt es dann die Alben von Toni Braxton & The Braxtons (wollen wir hoffen, dass das ihre Verwandten sind) oder Kylie Minogue. Beides Künstlerinnen, deren Relevanz ganz klar nach einem Weihnachtsalbum schreit. Oh, Stop. Soeben kommt eine Eilmeldung herein: LeAnn Rimes wagt ein Comeback und droppt ebenfalls den heißen "Rudolph, The Red-Nosed Reindeer“-Shit. (LeAnn Rimes ist diese Sängerin die mal einen Hit hatte, damals. Das war kurz bevor dieses Flugzeug in diesen Turm flog und dann das andere Flugzeug…Ach egal, ihr seid einfach zu jung dafür). Damit wurden die anderen beiden Damen natürlich um Längen geschlagen—was den "who cares“-Faktor betrifft. Wer sowas hört? Menschen die so wunderschöne Dinge wie den Gemüse-Entsafter oder einen beleuchteten Tisch-Springbrunnen bei QVC bestellen. Frauen mit Stil, die auch schon immer mal zu den Coyote-Ugly-Girls gehören wollten und deshalb 20 Jahre später einen Bauchtanz-Kurs besuchen und Männer mit Geschmack, die Alanis Morissette vermissen (oder gibt es die noch?), sich Strähnchen in die 80er Jahre-Frisur färben lassen und Muskel-Selfies schießen. Und schlussendlich natürlich alle Menschen, die kein Englisch können, aber trotzdem immer lauthals "Unbäääiiig maai haaaaat“ schmettern, wenn Toni Braxton ihren Welthit anstimmt. Ihr ahnt es, oder? Flieht so schnell ihr könnt.

Zu guter Letzt ließ sich einst natürlich auch Xavier Naidoo mit seiner "Sing meinen Song“-Entourage nicht lumpen. Immerhin muss die Reichsflugscheibe, die der Barde heimlich in seinem Mannheimer Keller bastelt, irgendwie finanziert werden. Und was singen die dann? Ich weiß es wirklich nicht, aber ich vermute es wird sich eher weniger um kommunistische Weihnachtsklassiker wie "Ho! Ho! Ho Chi Minh!“ handeln, wahrscheinlicher sind da schon ein paar neu umgedichtete Evergreens wie "Do they know it’s Rothschild-Time at all?“ oder "Last Christmas GmbH“. Dazu gibt es einen Bibel-Marathon und ein paar wehleidige "Wir sind doch nur für Frieden“-Chöre. Wer das kauft? Ganz klar: Leute die ihren Weihnachtsbaum in Alufolie einwickeln und ihn verkehrt herum aufstellen, um zu demonstrieren dass dieses Land immer noch besetzt ist. Und Jürgen Todenhöfer. Zu Essen gibt es Flugente mit Reichsapfel, als Getränk wird lediglich Wasser gereicht, der Xavier macht das schon. Wenn die Gesprächsthemen ausgehen, kann man immer noch über den Gaza-Konflikt sprechen. Auch in diesem Fall müsste ich euch normalerweise zur Flucht raten, aufgrund des fluchtfeindlichen Potentials in der Hörerschaft, würde ich vorher jedoch sicher gehen, dass ihr nicht einfach nur geht, weil es anderswo bessere Partys oder mehr Geschenke gibt (Wirtschaftsflüchtling!), das könnte zu wüsten Beschimpfungen führen.

Das war es dann auch schon. Und für alle, die sich einen Erkenntnisgewinn aus diesem Text erhofft haben, bleibt nur zu sagen: Der Leitspruch "Wo man singt, da lass dich ruhig nieder / böse Menschen haben keine Lieder“ wurde erfolgreich widerlegt. Deal with it!

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