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Hoffentlich habt ihr den verlogensten Song der Musikgeschichte längst vergessen

Kein Mensch erinnert sich mehr an das Remake des Klassikers—und das ist auch gut so, weil es das verlogenste Stück Musikgeschichte ist.

Am 12. Januar 2010 erschütterte ein Erdbeben den Karibikstaat Haiti. Schätzungen zufolge starben zwischen 220.000 und 500.000 Menschen bei dieser schrecklichen Katastrophe. Dieses Ereignis war damals in den USA sehr präsent. Nicht, dass die Amerikaner kollektiv über das Schicksal des kleinen Landes vor ihrer Küste trauerten, Haiti wurde zu so etwas wie dem Charity-Happening des Frühjahrs. Jeder, der was auf sich hielt, spendete für das Land mit dem komischen Namen. Aber gut, gegen Spenden kann man wohl nichts sagen, schätze ich.

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Was die Heuchlerei allerdings auf die Spitze trieb, war der Remake des Songs „We Are The World“, der nochmal aufgewärmt wurde, um Spenden für die Opfer Haitis zu sammeln. Wir alle kennen das Original aus dem Jahre 1985, das Michael Jackson und Lionel Richie geschrieben haben, um Aufmerksamkeit für die Opfer der Hungersnot in Äthiopien zu schaffen. Damals sang jeder, wirklich jeder, der im Musikgeschäft Rang und Namen hatte, bei dem Song mit. Bob Dylan, Bruce Springsteen, Stevie Wonder, Ray Charles usw. Der Song verkaufte sich 20 Millionen mal und ist nach Elton Johns „Candle in the Wind“ die am meisten verkaufte Single aller Zeiten.

Quincy Jones plante 2009 zusammen mit Lionel Richie eine überarbeitete Version des Songs unter dem Namen „Live 25“. Leider konnte man sich wegen der Lizenzrechte nicht einigen … bis am 12. Jänner ein Erdbeben die haitische Hauptstadt Port-au-Prince erfasste. Als die Charity-Maschinerie für Haiti richtig anlief, witterten Jones und Richie ihre Chance. Jetzt musste alles schnell gehen. Kurzerhand wurden um die 100 Künstler organisiert, die alle ein paar Fetzen zu dem Song beisteuerten. Entstanden ist wohl das verlogenste Stück Musikgeschichte: „We Are The World 25 For Haiti“.

Natürlich muss so ein wahrhaft mutiges Vorhaben, wie der Remake eines der bekanntesten Songs aller Zeiten, anmoderiert werden. Da heißt es, Empathie schaffen, die Menschen für das Thema sensibilisieren. Am Besten setzt man da einen beliebten schwarzen Schauspieler/Musiker hin, der wird schon wissen, wovon er spricht. Diese Haitianer scheinen ja auch schwarz zu sein, sagt uns jedenfalls das Bild im Hintergrund. Und wer ist der beste Kandidat für den Job? Genau, Will Smith. Aber wenn der nicht kann, ist Jamie Foxx auch immer eine zuverlässige Vertretung.

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Es geht hier nicht um Quincy Jones' oder Lionel Richies Comeback-Fantasien, oder um die 100 Musiker, die auf den Zug aufspringen. Nein, es geht hier um schwarze Kinder, die jetzt in dem, was von ihren Hütten noch übrig geblieben ist, leben. Schlimm sowas.

Und vor einem Fernseher in Spooner, Wisconsin sagt eine Frau zu ihrem Mann. „Schau mal, der kleine Junge im UNC-Jersey. Wie er auf seiner Blechhütte tanzt! Honey, hol doch mal deine Kreditkarte raus.“

Wer soll also diesen musikalischen Epos lostreten, den Startschuss setzen, um der größten musikalischen Zusammenführung aller Zeiten gerecht zu werden?

Genau der.

Ihr müsst das verstehen, damals war Justin noch nicht das Monster, zu dem er gemacht wurde. Anfang 2010 war Justin noch ein 15-jähriger Milchbubi, der kurz vor seinem ersten Album stand. Welche Kräfte im Hintergrund da wohl gewirkt haben, um den Jüngling ganz vorne zu platzieren?

Gott sei Dank bringt Nicole Scherzinger als Nächste in der Reihe wieder ein bisschen Seriösität in die Geschichte.

Was ist jetzt los? Sind wir bei den „100 nervigsten Amerikanern“ und Janet zieht über ihren Bruder her?

Auch Fergie sieht hier nicht wirklich so aus, als ob sie sich die Mühe gemacht hätte, hinzufahren und geschlossen mit den anderen Musikern aufzunehmen. Ist aber nicht ihre Schuld, Redaktionsleiter im turkmenischen Fernsehen kriegen ihre Wetterexperten besser vor den Blue-Screen platziert als die Sängerin. Bei Fergie hätten wir uns allerdings auch keine Mühe gegeben.

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Den Chorus singt natürlich die ganze Mannschaft. Die größten Musiker der Welt! Hm, euch kommen viele Gesichter fremd vor? Das liegt vielleicht daran, dass die meisten der ganz großen Stars abgesagt haben. Beyoncé, Rihanna, Lady Gaga, Jay-Z, Alicia Keys—sie alle waren nicht dabei. Aus Respekt vor dem Original, heißt es. Was taten Quincy Jones und Lionel Richie? Sie setzten auf Quantität statt Qualität und luden einfach noch mehr unbekannte Musiker ein. Und Nicole Scherzinger.

Stopp, Stopp, Stopp.

Das kann nicht euer Ernst sein! Wie kann man als emotionalen Höhepunkt im letzten Drittel des Songs T-Pain in voller Autotune-Dröhnung da ranlassen? Das ist doch Wahnsinn! Und übrigens überhaupt nicht witzig.

Du gibst vor, mit einer einzigartigen Kollektion an Talenten einen großartigen Song für die Opfer einer Katastrophe zu schaffen? Alle Musiker stehen im Halbkreis, schunkeln und singen „We are the world, we are the children, we are the ones who make a brighter day, so let's start giving“. Und dann stellst du einen T-Pain in Louis Vuitton-Montur und Rucksack dahin, der über alle hinwegölt.

Spätestens jetzt sollten jedem zwei Dinge klar sein.

1. Die musikalische Kultur vor fünf Jahren war eine Katastrophe (im Sinne davon, dass niemand aufgestanden ist, um Quincy zu fragen, ob er noch ganz dicht ist. Regt euch ab, natürlich gab es auch damals gute Musik.)

2. Dies ist wohl der verlogenste Song aller Zeiten. Das Original hat funktioniert, weil damals die besten Musiker zusammenkamen, um Aufmerksamkeit für eine humanitäre Katastrophe zu schaffen, die es schon seit Jahren gab. Michael Jackson und Lionel Richie konnten sich und die Musiker vorbereiten, um einen großartigen Song zu schaffen. Niemand hat die Popularität des Songs für möglich gehalten.

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Doch 25 Jahre später ging es nicht um die Opfer in Haiti. Es ging darum, den Song noch einmal aufzuwärmen, ohne irgendwas zu verändern—bis auf die unfassbar peinlichen Autotune- und Rap-Passagen. Jetzt musste Haiti herhalten, damit a) Quincy Jones und Lionel Ritchie nochmal was dazu verdienen können, b) jeder x-beliebige Musiker auch mit aufspringen kann und c) die Amerikaner ihr Gewissen beruhigen können.

Das Perverse ist, dass es solche Mogelpackungen benötigt, um für das Schicksal eines Landes aufmerksam zu machen.

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