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Warum Tinnitus das Beschissenste auf der Welt ist

Ein Jahr lang schickten mich Ohrengeräusche durch die Hölle.

Foto via Flickr | Jason Roger | CC BY 2.0

Wenn du Sonntagmorgen nach einer langen Clubnacht aufwachst, geht es dir meistens ziemlich scheiße: Dein Schädel brummt, du stinkst nach Zigarettenrauch und hast einen üblen Geschmack im Mund. Als wäre das nicht unangehnehm genug, begleiten dich vielleicht noch Symptome wie Pfeifen und Zischen in den Ohren. Diese Geräusche haben auch eine Bezeichnung: Tinnitus. Der tritt genau auf, wenn du dein Gehör mit zu viel Lärm gequält hast und du am Vorabend im Rausch auf alle Warnsignale geschissen hast. Aber das ist OK—man ist nur einmal jung: Im Normalfall wirst du nach ein, zwei Tagen schon wieder davon erlöst. Falls du auf alle Warnsignale scheißt, solltest du Folgendes wissen: Tinnitus kann dir auch Wochen, Monate oder noch länger am Arsch gehen. Wenn du Pech hast, bleibt er für die Ewigkeit. Dann kannst du dir echt gratulieren. Wie lange er bleibt, hängt beispielsweise davon ab, wie oft und wie stark du Party machst. Aber auch abgeshen von Lärm gibt es dafür eine Menge andere Gründe: Angefangen von Stress, Bluthochdruck, Kiefer- und Zahnprobleme oder Nackenverletzungen zählt man heute etwa 200 verschiedene Ursachen. Vielleicht fragst du dich warum man so einen big Deal aus dieser Sache macht. So ein Ton tut ja niemanden was. Ich hatte ein Jahr lang Tinnitus und es war scheiße.

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Bei mir war es ein pulsierendes Zischen, das sich so anfühlte als würde es sich durch meine Schädeldecke bohren. Mir fiel es auf, als ich von einem sehr, sehr stressigen Arbeitstag heimkam und mich der Scheiß einfach nicht einschlafen ließ. Warum mir das passiert ist, kann ich nicht sagen. Als wahnsinniger Konzertfanatiker habe ich meine Ohren schon viel zu oft mit Lärmpegeln beleidigt. War es so etwas wie ein Rachezug jahrelangen Missbrauchs? Was auch immer der Grund war—es ging nicht weg und es machte mich wahnsinnig. Man fühlt sich irgendwie isoliert und im eignen Körper gefangen. Du kannst nicht, wie bei so vielen Sachen im Leben, alles stehen und liegen lassen, um das Weite zu suchen. Der Piepston begleitet dich überall hin. Das ist eine ziemliche Härteprobe, die du auch im Alltag durchlebst: Zuerst hast du Schlafprobleme—die bekam ich halbwegs mit „white noise“ in den Griff. Das ist Weißes Rauschen, das den Tinnitus maskiert und andere Lärmgeräusche abschwächen kann. Ich hatte so etwas wie eine Best Of-Rauschkollektion: pink noise, blue noise, brown noise— you name it.

Irgendwann wirst du kreativ: ich stellte einen Ventilator neben das Bett und und ließ mich vom Summ-Geräusch in den Schlaf hypnotisieren. Duschen bekommt ebenfalls eine ganz neue Bedeutung: Der lautstarke Duschkopf befreit dich von der Zisch-Belästigung ganz gut und lässt dich zur Vernunft kommen. Was du lieben lernst ist das Geräusch von Regen. Es gibt nichts Besseres, als wenn nachts fette Regentropfen auf die Fenster klatschen und ein Rauschorchester das Tinnitus-Geplärre abschwächt. Ja, es sind auch hier die kleinen Dinge im Leben, die notwendig sind. Die Konzentration lässt ebenfalls nach—ab und zu fragte ich mich wie begriffsstutzig ich eigentlich sein kann, als ich Satzinhalte nach mehrmaligem Lesen trotzdem nicht checkte. Wenn du nicht lernst Tinnitus auszublenden lenkt er dich pausenlos ab. Selbst Musikhören hilft nicht wirklich. Dieses Zischen bohrte sich schon so stark in den Schädel, dass nur irgendwelche Metal-Bands für Ablenkung sorgten, die es aber gleichzeitig auch schlimmer machten. Ein Teufelskreis. Viel Trost holte ich mir von den ganzen Celebrity-Listen, die angeben welche (Rock-)Stars denselben Scheiß durchmachen wie ich. Du entwickelst auch eine hohe Affinität zu HNO-Ärzten, die so etwas wie deine Ersatzpsychologen werden und ziemliche Abneigung gegenüber Arschlöchern, die dir im Internet irgendwelche Tinnitus-Heilmitteln unterjubeln wollen und deine Hoffnung als Geldanlage benutzen. Shame on you. Besonders schmerzvoll war meine daraus resultierende Konzertabstinenz—ich hielt es für sehr sinnvoll mich eine Zeit lang von lautstarken Gehörextasen fernzuhalten und starb innerlich tausend Tode, als ich einer Band nach der anderen den Laufpass gab. Später traute ich mich mit fettem Gehörschutz auf meine Gigs und gab mich mit dumpf-klingenden Live-Versionen meiner Lieblingssongs zufrieden.

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Die Behandlungsmöglichkeiten für Tinnitus sind ziemlich begrenzt. Ein paar Kliniken pumpen dich mit einer Cortison-Infusionen voll oder bieten ein Retraining-Therapie an, wo man lernen soll, seinen Tinnitus auszublenden. Ich probierte andere Methoden aus, die euch jetzt aber erspare. So etwas wie Suizid-Gedanken blieben mir zum Glück erspart. Dabei stolpert man immer wieder auf dieses Thema, wenn man sich nachts durch stimmungsbedrückte Tinnitus-Foren quält. Die Leute sprechen dort von noch viel schlimmeren Umständen. Wie schon gesagt, Tinnitus ist verdammt scheiße.

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Ich weiß nicht genau was der Grund war, aber nach etwa einem Jahr verschwand er plötzlich wieder. Kurz davor verabschiedete ich mich von meinem 60 Stunden-Job und machte mit meinem Studium weiter. Ich schrieb Kopfhörer auf meine Todsünden-Liste und vermied Lärm, wie Priester Black Metal-Konzerte. Was auch immer mich von dem Scheiß erlöste, ich lebte wieder ein normales Leben. Lag es vielleicht daran, dass ich meinen Ohren eine Auszeit gegönnt habe oder war es vielleicht eine körperliche Reaktion auf meine damalige Stressempfindlichkeit? Um ehrlich zu sein war es mir auch egal. Ich war davon erlöst. Manchmal liege ich heute einfach im Bett, lege Iphone und Laptop zur Seite und genieße nichts anderes als Stille. Das war nämlich etwas, was ich mir ein Jahr lang wünschte—jeden Tag. Aber so merkwürdig das auch klingt—es ermöglichte mir Dinge im Leben anders zu betrachten. Ich nahm Vieles nicht mehr als selbstverständlich und fand durch den Alleinkampf meine persönlichen Grenzen heraus. Es ist kaum zu glauben, was ein simples Geräusch alles bezwecken kann und wie anfällig die Psyche auf so etwas reagiert. Abgesehen davon darf man Tinnitus nicht einfach auf laute Konzerte oder Clubnächte schieben, sondern sich zuerst generell Gedanken machen, was im eigenen Leben nicht passen könnte. Es steckt oft deutlich mehr dahinter.

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