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Thump

Warum Orlando uns alle trifft—egal, wen wir lieben

Der Attentäter wollte, dass es keine "safe spaces" mehr gibt. Er darf und wird damit nicht durchkommen.

Foto: Ein Geistlicher spendet zwei Aktivisten in Orlando Trost.

50 Tote. 53 Verletzte. Manche erreichten die schockierenden Nachrichten aus Orlando, während sie verkatert den Sonntagnachmittag durchwachten, manche lasen oder hörten davon zur selben Zeit noch immer (oder schon wieder) beim Feiern im Club. Die tödlichste Massenschießerei der jüngeren US-Geschichte hat sich in Florida zugetragen. Und der schwulenhassende, mit dem IS sympathisierende Attentäter hatte sich dafür den Schwulen- und Lesbenclub "Pulse" ausgesucht, in dem zum Zeitpunkt der Tat über 300 Menschen eine "Latin Night" feierten.

Ein unvorstellbares Blutbad, das wütend und ergriffen macht; das sich in den alltäglichen Reigen von Tod, Leid und Gewalt und dieser Welt einreiht; und das Angst und Unsicherheit sät.

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Das "Pulse" war bis zur Tat ein safe space für LGBT-Menschen, ein sicherer, selbstgeschaffener Freiraum, in dem jede und jeder seine Sexualität ausleben konnte, ohne von der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft dafür angefeindet oder in Frage gestellt zu werden. Ein Ort, an dem man unter sich sein konnte.

Der Attentäter mit seinem Automatik-Sturmgewehr hat nicht nur 50 Menschen getötet. Er hat versucht, der Community dieses Gefühl der Sicherheit zu nehmen. Seiner Meinung nach, durfte kein safe space existieren. Das gibt dem schrecklichen Verbrechen eine weitere Dimension.

In früheren Zeiten der Illegalisierung und Verfolgung von Homosexualität waren geheime oder semi-öffentliche Clubs als safe spaces überlebensnotwendige Rückzugsorte für schwul-trans*-lesbisches Leben. Diese Funktion haben sie bis heute gegen eine homophobe Außenwelt erhalten. Der Comedian David Morgan twitterte: "If you're not gay you might not know how rare it can be to feel welcome and safe in a space. To be gunned down in one of them is horrific."

Dabei kennen weit mehr Menschen als nur die LGBT-Menschen diese safe spaces sehr gut, weil sie die Community dort offen empfangen hat.

Dafür gilt ihr Dank und Anerkennung.

In queeren Clubs und auf queeren Partys genießen heterosexuelle Frauen die Abwesenheit sexistischer Macho-Anmachen, erfreuen sich Freundeskreise jeder Art an der oftmals ausgelassenen Stimmung, finden über ihre Sexualität unsichere Menschen eine verständnisvolle Umgebung vor, und erkunden Musikinteressierte neue Innovationen. Denn: Es ist eine alte Leier, aber: Ohne die Community gebe es elektronische Tanzmusik, wie sie heute ist, nicht.

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Sylvester war die größte aller Disco-Queens, DJs wie David Mancuso, Larry Levan, Junior Vasquez, Ken Collier und—natürlich—Frankie Knuckles machten Clubs wie das Paradise Garage legendär und sich selbst um Stile wie Disco und House verdient. Dem späteren Detroit Techno-Pionier Derrick May etwa wurde von schwulen Freunden die Chicago-House-Szene nahegebracht wurde. Heute finden Voguing-Workshops auf deutschen Festivals statt, während vom Miami Bounce über Kollektive wie Discowoman oder Janus bis hin zum Berghain weitere musikalische Impulse gesetzt werden. Impulse, die ein knöpfchendrückender, von mehren Frauen umtanzter David Guetta bei der EM-Eröffnungsfeier etwa keinesfalls generiert.

Orte wie der gerade erwähnte Berliner Club oder Veranstaltungen wie die queere sexpositive Reihe "Gegen" haben zudem mit der von ihnen sorgfältig geschaffenen befreienden und anregenden Atmosphäre auch zur sexuellen Selbstergründung vieler junger Heten-Clubgänger und -Clubgängerinnen beigetragen, die zumindest queere Politiken teilen und unterstützen.

Unter den Opfern von Orlando dürften somit auch Heterosexuelle gewesen sein. Diese Offenheit ist umso bemerkenswerter, da sie, wird sie zu stark beansprucht, die Grundfeste des Unter-sich-Seins, das Konzept des safe space an sich in Frage stellt.

Nach Orlando fanden sich in den sozialen Netzwerken nicht nur Beileidsbekundungen und Hilfsnachrichten, sondern eine handvoll homophober US-Amerikaner feierte den Attentäter für seine Attacke. Sie verhöhnten die Ermordeten, die Verwundeten und die Traumatisierten.

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Eine Reaktion auf Orlando am Tag danach in Philadelphia. Foto: imago/ZUMA Press

Hass und Gewalt auf bzw. gegenüber der LGBT-Community finden sich dabei in jedem Land der Welt. Ein einfaches "Stay Safe!", wie der Autor Solomon Georgio gestern anmerkte, gilt für sie bis heute nicht. Auch nicht bei uns.

In Dortmund wurden zwei Transfrauen erst im Januar beinahe zu Tode gesteinigt, in Berlin wiederum wurde im selben Monat ein schwules Paar nahe des queeren Ausgehhotspots Kottbusser Tor schwer verprügelt. Die Hauptstadt weißt auch insgesamt eine steigende Anzahl (angezeigter) homophober Straftaten auf. Bundesweit gibt es darüber hinaus mit der AfD eine vitale dezidiert homo-feindliche politische Bewegung.

Und wer Algerien, Marokko und Tunesien zu "sicheren Herkunftsländern" erklärt, so wie es der Bundestag mit Stimmen von Union und SPD gerade getan hat, unterschlägt blindlings die Situation von LGBT-Menschen in diesen Ländern: Homosexualität steht hier, wie auch in Deutschland bis 1969 bzw. 1973, unter Strafe. In Marokko wurden erst Anfang vorletzter Woche wieder zwei Männer aufgrund ihrer Liebe für sechs Monate inhaftiert.

Im Übrigen wird es Menschen, die gleichgeschlechtliche Sexualkontakte haben, bis heute aus schwerlich nachvollziehbaren Gründen nicht gestattet, Blut zu spenden—weder in Österreich, noch in den USA. Weshalb von vielen Seiten direkt nach der Tat zur Unterstützung der Verletzten durch Spenden aufgerufen wurde. Zahlreiche Menschen folgten, vor den Spendezentren bildeten sich (erfreulicherweise) stundenlange Schlangen.

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Orlando trifft also jeden von uns—nicht nur, weil so viele Menschen ihr Leben ließen.

Jeder Mensch, solange er niemandem dabei schadet, hat das Recht, so zu lieben, wie er oder sie es möchte.

"FYI: The gay agenda has always been "enjoy every moment you can before a hateful person takes it away.", schrieb der Autor Solomon Georgio auf Twitter.

Schon die gestrige Nacht zeigte: Die Community trauerte zwar, aber sie tanzte vielerorts wie zum Trotz weiter. Erhobenen Hauptes, wie eh und je.

Wir müssen jede Liebe nicht nur respektieren. Wir alle müssen auch für sie kämpfen.

Gemeinsam. Gerne auch lebensfroh mit Musik.

Die safe spaces, die so viele Menschen einen Freiraum und Rückzugsort geboten haben, gehören, wie auch immer, verteidigt.

Dieser Artikel ist zuerst bei THUMP erschienen.

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