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In Würde altern—Ein Clubgig mit Tocotronic

Tocotronic haben gestern in Wien ein vergleichsweise winziges Überraschungskonzert gespielt. Wir waren dort.

Mittwoch ist Selbstmord

Ein von @l4ndvogt gepostetes Foto am 29. Apr 2015 um 14:28 Uhr

Es gibt eine Sache, die wenig Menschen über Tocotronic wissen. Nämlich dass die mittlerweile über 20-jährige Bandgeschichte eigentlich eine Geschichte des Scheiterns ist. Denn die Band hat es vielleicht nie wieder geschafft, eine so kraftvolle, zweifelnde, alles und nichtssagenden Zeile zu schreiben wie den Anfang des Openers ihres ersten Albums: „Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse. Fahrradfahrer dieser Stadt“. In diesem Satz stecken so viele sich widerstrebende Gefühle, dass es eine Freude ist: Der Hass auf Dinge, von denen man eigentlich weiß, dass sie gut sind. Der (Selbst)Hass auf eine Szene, zu der man selbst gehört. Und die Zweifel an sich selbst und seinem Hass. Hätte ich so eine Zeile geschrieben, ich hätte vielleicht aufgehört.

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Tocotronic haben danach nicht aufgehört, weshalb sie „Freiburg“ dann gestern auch als letzte reguläre Nummer spielen konnten. Die Kollegen von Radio FM4 hatten zum Überraschungskonzert ins B72 nach Wien geladen. Wer schon mal im vergleichsweise winzigen B72 war, kann sich vorstellen, was das heißt. Es kursieren an dem Abend verschiedene, nicht verifzierbare Zahlen, wie viele pinke Eintrittsbänder ausgegeben wurden. Die höchste ist 280, aber man hat mir gesagt, ich soll diese Zahl bitte nicht in diesen Artikel schreiben. Es war also voll, heiß, stickig. Aber so müssen Clubkonzerte ja auch sein.

Tocotronic betreten die Bühne mit „Prolog“ von ihrer neuen Platte, welche Die Welt bereits als „das vielleicht schwulste Album der Welt“ bezeichnet hat. Richtig warm wird das Publikum dann aber doch erst beim ersten richtig alten Song, „Du bist ganz schön bedient“ vom Zweitling Nach der verlorenen Zeit. Tocotronic spielen sich danach gute 1,5 Stunden durch ihre Discographie und behalten dabei ihre Würde. Das heißt sie tappen weder in die Nostalgiefalle und spielen nur die Songs, die das Publikum hören will. Noch schrecken sie es mit zu viel Neuem ab. Die Tocotronic-„Hits“ der Nullerjahre sind alle dabei: „Aber hier leben, nein danke“, auch „Hi Freaks“, der vielleicht einzige Tocotronic-Song, der auf Platte besser ist als live. Die 90er werden gespielt, aber da fehlt natürlich immer jedem irgendwas. Die ersten Zugaben enttäuschen ein bisschen—„Mein Ruin“ und eine epische Version von „Explosion“ sind schön und gut, aber dafür sind die Leute nicht gekommen. Das weiß die Band auch, weshalb die danach noch zwei mal auf die Bühne kommt, um die Leute mit „Drüben auf dem Hügel“, „Kapitulation“ und der ultimativen Anti-Wochenends-Hymne „Samstag ist Selbstmord“ zu versöhnen.

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Das Lustige an Tocotronic ist ja, dass jeder, der im deutschsprachigen Raum mit Indie aufgewachsen ist, auch mit Tocotronic aufgewachsen ist. Bei den 40-jährigen gestern Abend dürfte die erste Toco-Platte die Digital ist besser gewesen sein, bei den Leuten in meinem Alter die K.O.O.K., bei den 22-jährigen vielleicht die Kapitulation. Aber das ist eigentlich auch wurscht. Anders als zum Beispiel die Toten Hosen haben sich Tocotronic ja durch ihre stetige Entwicklung geweigert, so etwas wie eine „Hochphase“ zu haben. Die Band darf sich jeder individuell erarbeiten.

Alles in allem also wirklich ein ziemlich gelungener Abend mit einer Band, die in Würde alt wird. Das Ganze kann man sich übrigens bald schon wieder anschauen: Am 19. Juli beim Arena Open Air.

Noch mehr lahme Meinungen von Jonas gibt es auf Twitter: @L4ndvogt

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