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Auftritt genehmigt: Punk und Rebellion im Sibirien der 80er-Jahre

Die sibirischen Punks waren radikaler als alles, was im Westen bekannt war. Für ihren erhobenen Mittelfinger Richtung Staat mussten sie aber auch einen hohen Preis zahlen.

Cultural Revolution, Foto von Artur Strukow

Für einen Jugendlichen, der mit der weißrussischen Disco-Pop-Band Verasy und zuckersüßen Hits wie „Ich lebe bei meiner Großmutter“ aufgewachsen ist, war Sowjet-Punk gleichzeitig Provokation und ein Ruf zu den Waffen. Es war, um es mit den Worten des früheren Samisdat-Journalisten Alexander Kushnir auszudrücken, als hätte man ein Messer in seiner Tasche gefunden oder einen Todeskult im Haus nebenan entdeckt. Plötzlich bist du nicht mehr der aufrichtige Jungpionier, der genügsam jegliche Musik hört, die Melodija (die einzige und vom Staat kontrollierte Plattenfirma der UdSSR) für harmlos genug befunden hatte, um sie dem breiten Volk zuzumuten—italienische Liebeslieder, aufbauende sowjetische Balladen, die unheimlich harmlosen ABBA und die eben schon genannten missglückten Disco-Mutationen—sondern wackelst heftig mit deinem Kopf zu Songs wie „Old Age – No Joy“, „Corpse Smell“ und „Hey Broad, Throw Up“. Jahre bevor Gorbatschow 1986 beim Kongress der Kommunistischen Partei das Podium erklommen und das Wort „Glasnost“ geäußert hat, hatte die musikalische Perestroika längst begonnen.

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Der Gedanke, dass abgelegene Betonstädte, erbaut von Gulag-Insassen und mehrere tausende Kilometer östlich von Russlands kulturellen Hauptstädten gelegen, für die sowjetische Punkzene ungefähr den gleichen Stellenwert hatten wie London für die westliche, ist für Europäer nur schwer nachvollziehbar. Tatsächlich waren es aber sibirische Bands wie Graschdanskaja Oborona [oder einfach GrOb], Instruktsiya po Vyzhivaniyu und BOMZh, die raue und kompromisslos polemische Musik gemacht haben, die die letzte Generation der sowjetischen Jugend prägen sollte—eine Generation für die der Systemwechsel nicht schnell genug kommen konnte.

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Instruktsiya po Vyzhivaniyu, Foto von Artur Strukow

Warum Sibirien? Es gibt einige Theorien. Vielleicht waren die Punkbands aus dem Umfeld der etablierten Rockszenen in Moskau, St. Petersburg und Jekaterinburg (das waren die einzigen Städte, in denen es erlaubt war, von der Regierung unterstützte „Rock-Clubs“ zu betreiben) einfach zu nah an den Machtzentren, um die gleichen Risiken einzugehen, wie die Bands in Sibirien. Manche Kritiker argumentieren auch, dass die Bands in Westrussland ihre umstürzlerischen Impulse runterschraubten, weil sie das Ende der Sowjetunion schon kommen sahen und bereits auf Massentauglichkeit hin arbeiteten. Artur Strukow aber, der Frontmann der aus Tjumen stammenden Punkband Cultural Revolution, liefert eine recht einfache Antwort: die Kälte. „Die meiste Zeit des Jahres sitzt du Zuhause, liest und denkst über dich selbst nach“, sagt er schulterzuckend.

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Sibirien bot vielleicht den perfekten Nährboden für den kreativen Zorn, den Punk benötigt, aber tatsächlich etwas aufzunehmen oder aufzutreten war im asiatischen Teil des Staates unglaublich schwierig. DIY war damals weniger eine Ästhetik zu der man sich bewusst entschied, sondern mehr eine Notwendigkeit des alltäglichen Lebens in einer Zeit, die von chronischem Mangel an fast allem geprägt war. Gerade dieser Zustand schien die sibirischen Punkbands jedoch nur noch einfallsreicher zu machen. Die beiden Gitarren von Instruktsiya po Vyzhivaniyu wurden von drei Bands geteilt und waren buchstäblich selbstgemacht—zuhause auf einer Drehbank. „Statt einem Reverb benutzten wir eine Metallwanne und befestigten ein Mikrofon daran“, erinnert sich Alexander Tschirkin der Frontmann von Putti. „Ich habe dann meinen Kopf reingehalten und losgeschrien.“ (Ein weiterer Trick war die Ausreizung der Lautstärke eines Taperecorders, statt der Verwendung eines Verzerrpedals.) Was Auftritte anging, sah es nicht viel besser aus. Da es in Sibirien keine offiziellen Rock-Clubs gab, bevölkerten die Punks Cafeterias, Wohnungen, Bibliotheken und lokale „Kulturhäuser“—das sowjetischen Äquivalent zu den hiesigen Jugendzentren. Manchmal fanden auch ganze Rockfestivals in Schlafsälen statt.

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Graschdanskaja Oborona, Foto von Juri Tschaschkin

In mancher Hinsicht hatten die sibirischen Punks nur wenig mit ihren westlichen Vertretern zu tun. So weit hinter dem eisernen Vorhang waren die Samisdat-Quellen, aus denen sie ihre Inspiration zogen, nicht immer so verlässlich, was letztendlich zu einem Mischmasch widersprüchlicher Stile führte. „Wir sahen uns alte Fotos aus Magazinen an, machten uns einen Iro und malten uns die Gesichter wie KISS an“, sagt Tschirkin. Andere Bands wie Instruktsiya po Vyzhivaniyu waren der Meinung, dass sie schon zu punk seien, um wie Punks aussehen zu müssen. „Uns war das Aussehen egal“, sagt Frontmann Roman Neumojew. „Wir haben uns mehr für die Avantgarde-Essenz und die intellektuellen Wurzeln [des Punk] interessiert.“ Instruktsiya po Vyzhivaniyu haben erst echte Punks getroffen, ausgestattet mit Ketten und kaputten Jacken, als sie in die baltischen Staaten gereist sind. Diese Erfahrung hat zu einer recht pragmatischen Erkenntnis geführt: „Wenn du in Sibirien so in der Öffentlichkeit herumlaufen würdest, würdest du keine 100 Meter gehen können. Irgendjemand würde dich einfach schnappen, in die nächste Ecke zerren und dann die Scheiße aus dir rausprügeln.“

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Wenn es aber darum ging, Tabus auszuloten, dann ließen die sibirischen Punkbands nichts als verbrannte Erde zurück. Sergej Firsow, der Manager von GrOb in den 1980ern, erklärt: „Alle waren total anti-sowjetisch eingestellt. Natürlich wollten wir alle das System zerstören.“ Angetrieben vom Ballast des totalitären Regimes war die Radikalität und die Wut der sibirischen Punks etwas, das viel weiter ging als alles, was man im Westen gewohnt war. Das Gleiche galt aber auch für den Preis, den man dafür zahlen musste, dem Staat den Mittelfinger zu zeigen.

Während der Sowjetzeit existierte Punk—und eigentlich jede Form von Rockmusik—in einer trüben, halblegalen Zone. Sibirische Bands lebten unter ständiger Beobachtung durch die Regierung. Die Texte mit den örtlichen Zensoren zu überarbeiten war eine so alltägliche und notwendige Angelegenheit, wie die langen Schlangen für Käse oder ein paar neue Socken. „Damals konntest du nicht einfach irgendeinen Song auf der Bühne singen, du musstest erst zu deinem örtlichen Zentrum für Wissenschafts- und Systemangelegenheiten“, erinnert sich Mikhail Pozdnjakow von Putti. „Du brachtest ihnen in dreifacher Ausführung deine Texte, mit denen du auftreten wolltest, zur Überprüfung.“ Der Leiter des Zentrums stempelte die Texte dann ab: „Aufführung genehmigt.“ Aber selbst dieser Stempel hat dich nicht vor Schlägen durch die Polizei oder Gefängnisaufenthalten geschützt. Viele Punks wurden aus den Universitäten ausgeschlossen, in die Armee eingezogen (auch wenn sie zum Beispiel einen Herzfehler hatten) oder konnten einfach keinen Job behalten. Jegor Letow, der Frontmann von GrOb und für viele der Urvater der russischen Punkszene, wurde einmal vom KGB verhaftet und in eine psychiatrische Anstalt gesteckt. Dort blieb er dann drei Monate, bevor man ihn wieder entließ.

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Das Epizentrum der sibirischen Undergroundszene war Letows eigenes Aufnahmestudio, das sich in den zwei Zimmern eines winzigen Appartements am Rande der Stadt Omsk befand. In diesem Studio, auch bekannt als GrOb Records [GrOb bedeutet auf Russisch außerdem noch „Sarg“], wurden dutzende sibirische Punkalben aufgenommen. Darunter auch zwei Dutzend seltene Songs von Janka Djagilewa, die immer mal wieder mit Letow zusammen war und eine der wirklich erwähnenswerten Ausnahmen in der ansonsten von Männern dominierten sibirischen Punkszene. In vielerlei Hinsicht ist das GrOb-Archiv die Geschichte des sibirischen Punks.

„Letows hat daran geglaubt, dass jeder Platten machen und das nicht auf später oder auf ein anderes Jahr aufschieben sollte“, sagt Oleg „Manager“ Sudakow Jahre später. „Du solltest kommen, dich hinsetzen, spielen, aufnehmen und die Platte veröffentlichen.“ Das beschreibt den Prozess im Prinzip; Letow hat einmal drei Alben innerhalb eines Monats selbst eingespielt. Die Musik wurde mit miesen Tonbandgeräten und später Kassettenrekordern aufgenommen. Die Kopien wurden in die ganze Sowjetunion verschickt, ohne über Kosten oder Profite nachzudenken. Es gab keinerlei Promotion. Janka Djagilewa hat sich geweigert, interviewt zu werden. Artur Strukow von Cultural Revolution hat sich sogar geweigert, auf Tour zu gehen—zumindest wenn man die Definition von Touren einer Mainstream-Band anwendet.

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„Es hat uns umgebracht, dass wir dasselbe Programm dreimal am Tag spielen mussten“, sagt er. „Für uns war es total inakzeptabel, deine Songs zu wiederholen, die du als etwas Persönliches ansiehst… eine Woche lang in einer Stadt und dann in der nächsten.“ Der Frontmann von Kooperativ Nishtyak, Kirill Ribjakow, fasst ihre Philosophie ziemlich gut zusammen. „Was letztendlich daraus entsteht, ist nicht wichtig. Ob es Geld gibt oder etwas anderes, ist auch nicht wichtig. Selbst ob Leute beim Konzert auftauchen, ist nicht wichtig.“ Oleg Surusin von Flirt fügt hinzu: „Ich wusste nicht, wie man singt und ich kannte keine Akkorde. Aber ich habe Songs geschrieben!“

GrOb

Wenn man die Weigerung bedenkt, den wachsenden Markt für ihre eigene Musik irgendwie zu bedienen, ist es nicht überraschend, dass der sibirische Punk zu einem Anachronismus wurde. Viele haben den Tod von Janka als symbolisches Ende der Ära des sibirischen Punk angesehen. Im Mai 1991 wurde ihre Leiche in einem Fluss nahe Nowosibirsk gefunden. Sie wurde 24 Jahre alt. Die genauen Umstände ihre Todes bleiben unbekannt, obwohl viele glauben, dass es Selbstmord war. Graschdanskaja Oborona haben eine Auszeit genommen und erst weit nach dem Ende der Sowjetunion wieder Musik gemacht. Andere sibirische Punkbands, die der Sache weiter treu blieben, hatten Schwierigkeiten, in der glitzernden neuen Welt des russischen Showbusiness’ Fuß zu fassen. Eine Handvoll bilden weiter das Fußvolk für die Sache und wettern weiter gegen die russischen Bands, die heutzutage an der Spitze der Charts stehen, sowie jeden sonst, der „unseren Rock, oder was früher Rock war, in eine Menge Mist verwandelt hat“, wie Letow es 1990 bei einem Konzert in Moskau ausgedrückt hat.

Natürlich hat der Zerfall des kommunistischen Systems selbst die sibirischen Punks in eine missliche Lage gebracht; das Ziel ihrer Rebellion war auf einmal nicht mehr da, was sie als Armee ohne Feind zurückließ. Mittlerweile sehen die überlebenden sibirischen Punk-Veteranen das Pendel allerdings wieder zurückschwingen und auf merkwürdige Weise ist ihr Erbe des Widerstands relevanter als jemals zuvor. Putins immer autoritärer werdender Führungsstil hat Punk wieder wichtig werden lassen, indem er die ideologische Kluft zwischen den t.A.T.u.s Russlands und den Pussy Riots beleuchtet. Der ehemalige Schlagzeuger von Instruktsiya po Vyzhivaniyu, Jewgeni Kuznetsow, stellt dies heraus: „Genau wie sie damals nicht wussten, was sie mit Instruktsiya po Vyzhivaniyu machen sollen, so weiß Putin nicht, was er mit all diesem verdammten Zeug machen soll.“ Vielleicht bedeutet dies also, dass echter Punkrock, im sibirischen Stil, sich für seine Rückkehr erhebt. Eine neue Generation Russen könnte ein gutes Messer in ihrer Tasche gebrauchen.

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