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Produktionsmusik: Die Songs, die du fast auswendig kannst, ohne sie zu kennen

Es gibt eine ganze Industrie, die nur davon lebt, Songs zu schreiben, die ähnlich klingen, wie das, was du sonst so hörst.

„Woman Like Me“ von Beyoncé sampelt ein Stück Produktionsmusik

Hinter der wuchernden Wildnis populärer Musik liegt eine sogar noch chaotischere Welt verborgen, eine, in der du wahrscheinlich nie das Wort „Künstler“ hören wirst; eine, die Journalisten nicht wagen, zu betreten. Dort lauern Drachen und jede Menge anonyme Produzenten, die 86% der Musik schreiben, die dir jeden Tag über den Weg läuft. Ich spreche über die Musik, die du in Filmtrailern, deiner Lieblingsserie und sogar im Radio hörst. Das sind die Songs, die dem Verlangen der TV-Produzenten nach billigen, eingängigen Songs entspringen; die Rede ist von Produktionsmusik.

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Produktionsmusik—auch unter dem Namen Library Music bekannt—hat ihren Ursprung 1927 in England mit der Firma De Wolfe Music, die im Zuge der Etablierung des Tonfilms und den dadurch entstehenden Problemen mit dem Urheberrecht bei der Verwendung von Klängen entstand. Jedes Studio für Produktionsmusik besitzt die vollständigen Rechte an den Liedern, die es in seiner Sammlung hat, was der Tatsache geschuldet ist, dass dort fast jede Komposition auf selbstständiger Basis oder Vertragsbasis geschrieben wird. Verlage für populäre oder klassische Musik besitzen, nur zum Vergleich, in der Regel nicht mehr als 50% der Urheberrechte. Der Rest gehört den Komponisten.

Natürlich ist das eine praktische Lösung für die Medienfirmen: Die Produktionsmusik-Studios lizensieren Songs in ihren Katalogen zu angemessenen Preisen, was es dem Lizenznehmer erlaubt, die exorbitanten Gebühren, die Komponisten bekannter Songs verlangen, zu umgehen.

Als ältestes dieser Studios hat De Wolfe über 80.000 solcher Songs angehäuft—sie haben zu der musikalischen Untermalung von Doctor Who, Monty Python, Dawn of the Dead, Brokeback Mountain, American Gangster, Top Gear und vielen anderen beigetragen; De Wolfes Musik wurde sogar von Studio-Künstlern wie Lily Allen, Gorillaz, Beyoncé und Ja Rule genutzt. Der Knackpunkt des Ganzen ist die Tatsache, dass sich Produktionsmusik so anhört und anfühlt wie etwas, das du zuvor bereits gehört hast—geradezu als würde sie in der Haut deiner Lieblingskünstler stecken. Genau das ist der Sinn dabei.

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Fulford, rechts

John Fulford ist ein bescheidener, jugendlich aussehender Kerl: wenn er auf der Straße an dir vorbeilaufen würde, würde er dir nicht weiter auffallen. Das passt auch ganz gut zu dem, was er beruflich macht. John ist ein Vollzeit-Produktionsmusiker. Er schuftet in einem Schattenreich, seine Arbeiten hast du aber mit großer Wahrscheinlichkeit schon mal gehört: Er hat Musik für Glee, Breaking Bad, Catfish, Keeping Up with the Kardashians und Teen Mom geschrieben.

Als wir uns am Telefon unterhalten, erzählt mir John, dass er zum ersten Mal 1998 von Produktionsmusik gehört hat—er war noch in der Highschool. „Um es kurz zu fassen: Ich arbeitete in einem Aufnahmestudio in Florida und einer der Techniker dort, der früher in L.A. gewohnt hat, erzählte mir davon“, erinnert er sich. „Zur gleichen Zeit haben wir an einem Miami Bass-Projekt für ein Plattenlabel aus Miami gearbeitet und ich habe die Musik dann in einer Fernsehsendung mit dem Titel Making The Video: Britney Spears gehört.“

2006 zog er nach Los Angeles, um Produzent zu werden und mit Studiokünstlern zu arbeiten—aber zu der Zeit hatte John schon ein so großes Netzwerk im TV-Bereich (genauer gesagt, MTV) aufgebaut, dass er den Wechsel nie wirklich vollzogen hat. „Die erste Show, die meine Musik genutzt hat, war Road Rules Challenge auf MTV“, sagt er. „Wenn eine Staffel einer Sendung fertig ist, arbeitet die Musikabteilung oft an einer anderen Show bei demselben Sender weiter.“

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Weil Johns Musik gefragt ist—und aufgrund der Geschwindigkeit von TV-Produktionen—sieht seine tägliche Routine in etwa so aus: Sehen, ob eine der TV-Sendungen, die er direkt beliefert, etwas braucht (die meisten benutzen zwischen 50 und 100 Musikstücken pro Episode, also gibt es eine große Nachfrage); wenn sie nichts brauchen, gibt es später am Tag für gewöhnlich einen Anruf eines großen Senders, „in dem sie sagen, dass sie einen Rapsong für eine Folge Grey’s Anatomy brauchen oder für eine Folge Breaking Bad oder Glee.“ Wenn er das Benötigte nicht in seinem Katalog hat, dann geht er ins Studio, um auf Anfrage einen maßgeschneiderten Song aufzunehmen—Musik, Text, Gesang, Mix. „Fernsehen ist sehr schnell“, erzählt er mir. „Das schnellste, was ich je gemacht habe, war ein russischer Rapsong innerhalb von zweieinhalb Stunden. Sie haben ihn verwendet. Und der Song war wirklich auf Russisch. Ich spreche kein Russisch. Ich musste einen russischen Rapper finden, damit er auf den Song zu rappt.“ Das war für die Sendung Nikita und diese zweieinhalb Stunden Arbeit haben ihm drei Monate Miete finanziert.

Es ist müßig, zu erwähnen, dass es schwierig ist, mit Musik (jeder Art) seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. John, der sich fast alles selber beigebracht hat, hat dies bislang ziemlich gut gemeistert und sich seine Nische in der Branche geschaffen. „Meinen letzten Job als Angestellter hatte ich 2007, da habe ich 10 Dollar die Stunde verdient“, sagt er. „Eines Tages kam ich nach Hause—das war der gleiche Tag, an dem meine Freundin mich für meinen Mitbewohner verlassen hat—und bekam einen Scheck der ASCAP (American Society of Composers, Authors and Publishers) über 5000 Dollar. Das war es also für mich. Der Tag, der mein Leben verändert hat. Auf mehr als eine Art.“

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Ich habe Produktionsmusik das erste Mal bewusst vor ein paar Jahren durch den exzellenten, einstündigen 2011er Mix von Radio Soulwax kennen gelernt, „Librarian Girl“. Dazu gibt es ein Video: Darin sieht man eine Frau mit großen, runden Brillengläsern und rot lackierten Fingernägeln—die vermeintliche Bibliothekarin von Radio Soulwax. Sie trinkt Tee, macht Notizen auf einem Block und inventarisiert dabei sorgfältig einen ganzen Raum voller Platten. Als ich mir das Video zum ersten Mal auf dem kaputten Display meines iPhones anschaute, überkam mich die Vorstellung der fast unendlichen Möglichkeiten; es gibt Millionen dieser Tracks da draußen, die mehr oder weniger behutsam für diesen einen Zweck geschaffen wurden, ihre Melodien unaufdringlich kommen und wieder gehen zu lassen. Und tatsächlich gibt es Künstler wie Belbury Poly, die sich diesen schier unendlichen Katalog zu Nutze machen.

Das Anhören von Johns Musik versetzt mich zurück in die Tage von Limewire, als man Songs runtergeladen hat und dann beim Abspielen plötzlich etwas komplett Unerwartetes zu hören bekam. Nimm zum Beispiel den Song, auf den er am meisten stolz ist, „Get In My Car“, der zum ersten Mal bei einer Folge von CSI: Miami 2008 zu hören war. Oberflächlich kommt einem das Lied irgendwie bekannt vor—es hat die ganzen rhythmischen Claps, Hi-Hat Fills und Synthesizer Sprenkel eines bekannten Radio-Rapsongs von vor sechs Jahren. John ist allerdings aus einem ganz anderen Grund stolz auf ihn, wie er mir in einer E-Mail schrieb:

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Ich bekam 2008 einen Anruf von CSI: Miami. Sie wollten, dass ich ihnen bis 19 Uhr ein paar Songs auf CD zukommen lasse, die sie in die Auswahl für eine Episode nehmen wollten, an der sie gerade arbeiteten. Als ich auf den Weg zur Abgabe war, fuhr mir diese Frau ins Auto und verursachte einen Totalschaden. Der Airbag hatte mir eine ordentliche Schramme vom Handgelenk bis zum Ellenbogen verpasst. Um es kurz zu fassen: Ich schaffte es noch zeitig zum Musikbüro von CSI: Miami, gab die CD ab und bekam die Zusage. Das war das erste Mal, dass meine Musik im Network TV gespielt wurde.

Seit seinen Anfangstagen hat sich Johns Leben immens gebessert. „Es gab Zeiten, da hatte ich keinen Kühlschrank, kein Bett, keine Möbel, noch nicht mal Internet. Jetzt habe ich all das, kann mit tollen Künstlern an tollen Projekten arbeiten UND werde auch noch interviewt“, schrieb er. „Es könnte nicht besser laufen!!!“

Würdest du mit dieser Story im Hinterkopf der Hintergrundmusik in Fernsehen und Kino mehr Aufmerksamkeit widmen? Was mich selber angeht, bin ich mir da nicht so sicher.

Ob wir es wollen oder nicht, Produktionsmusik ist ein sich ständig mitveränderndes Abbild unserer Kultur, eine Aufzeichnung des Zeitgeistes, wenn du so willst. Der subjektive Wert, den wir Kunst zuschreiben, ist von ihrem Kontext abhängig. Ein Haufen Müll, der in einer Galerie ausgestellt ist, verlangt Aufmerksamkeit und eingehende Beschäftigung; der gleiche Haufen Müll an einer Straßenecke wird aber ignoriert. Man kann nicht sagen, was die Menschen in hundert Jahren über Produktionsmusik oder Ähnliches denken werden. Kultur entwickelt sich schnell—sie ist die Vorhut der menschlichen Errungenschaften. Das bedeutet für Produktionsmusik nur eins: Es gibt einfach zu viel davon und genau das ist großartig.

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Bijan Stephen ist ein junger altkluger Schreiberling und lebt in Brooklyn. Er twittert (auch altklug) unter @bijanstephen

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