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Musiker finden immer ausgefallenere Wege, um Geld zu verdienen

Egal ob PJ Harvey, TLC, Wu-Tang, Run The Jewels oder Nipsey Hussle: Es dreht sich immer weniger um die Frage „Was soll das kosten?“ und immer mehr um „Wie viel würde ich dafür ausgeben?“

Es ist schon ein wenig befremdlich, zu sehen, wie die Barriere zwischen Fan und Künstler in der Welt der Musik immer weiter verschwindet. Taylor Swift schickt ihren Fans Schecks und selbstgemalte Bilder und TLC starten einen Kickstarter mit persönlichen Danksagungen—ja, wahrscheinlich können wir Popstars schon bald direkt in die Augen schauen. Aber warum kümmern sich die mystischen Wesen des Musikgeschäfts plötzlich so sehr um jeden Einzelnen von uns?

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Im Somerset House in London ist momentan ein weiteres Beispiel dieser neuen Fannähe zu bestaunen. PJ Harvey veranstaltet dort Recording in Progress—ein Kunstprojekt, bei dem die Konzeption eines Albums eingefangen werden soll. Dazu wurde im Keller des Gebäudes ein Aufnahmestudio errichtet, das durch einen halbdurchlässigen Spiegel beobachtet werden kann. Laut Kritikern liefert dieses Kunstprojekt ein Porträt der Künstlerin „in Echtzeit.“ „In Echtzeit“ heißt in diesem Fall vereinbarte 45-minütige ‚Besuchszeiten’, für die jeder Zuschauer 15 Pfund hinblättern muss.

Dahinter steckt die Hoffnung, dass jeder—also normale Menschen—einen Blick auf die Magie erhaschen kann, die erwiesenermaßen entsteht, wenn Kunst erschaffen wird. Mit etwas Glück wird man Zeuge, wie immer wieder ein Refrain wiederholt wird; vielleicht passt man auch den seltenen Moment ab, in dem jemand „Was?“, sagt, während im Hintergrund eine Gitarre gestimmt wird; vielleicht beobachtet man auch, wie sich PJ Harvey lauthals über eine Drumspur auslässt, die sie dann wenig später neu aufnehmen lässt. Das ist allerdings das optimistische Szenario. Im schlimmsten Fall kann man Harvey dabei beobachten, wie sie eine Orange schält, während sie darauf wartet, dass der Mixdown fertig exportiert ist. Obwohl das Ganze ziemlich unspektakulär ist, ist die Unternehmung für die Künstlerin ziemlich rentabel und den zahlungskräftigen Besuchergruppen wird ihr voyeuristischer Fantraum erfüllt.

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Ich bin jetzt aber auch nicht so zynisch, nicht den künstlerischen Wert in dem zu sehen, was PJ Harvey versucht zu erreichen. Ich gehe ja auch nicht wie ein Gebrauchtwagenhändler durch den Louvre und frage mich, wie viel Geld hier wohl gescheffelt wird. Wenn ich mir aber Adrian Searles Kritik im Guardian anschaue, in der sich der Autor fast übertrieben unberührt zeigt und trotzdem fünf Sterne vergibt—„Von Atmosphäre ist hier kaum etwas zu spüren. Während wir uns den Fenstern mit dem Blick ins Studio nähern, sehen wir, wie Harvey, ihr Produzent und die Musiker plaudern, gähnen und Dubs, Overlays, Lyrics und Riffs aufnehmen, bzw. neu aufnehmen“—scheint es so, als würden die Besucher, die etwas ehrlicher zu sich selbst sind, ziemlich enttäuscht auf der Strecke bleiben. Vielleicht ist es aber auch genau das, was PJ Harvey wollte. Es ist die perfekte Rache für die Erwartungen des modernen Musikfans: „Du willst alles sehen? OK, bitteschön, hier hast du alles! Scheiße langweilig, nicht wahr?“

Die Sache ist allerdings, dass es einem dann doch etwas schwerfällt, den ganzen geschäftlichen Aspekt ihres Projekts einfach zu ignorieren: Sie nimmt eine traditionell eher PR-karge Zeit im Zyklus eines jeden Künstlers und verwandelt diese in einen einmonatigen, täglich stattfindenden, eintrittspreisgebundenen Event, das sie leicht in die Schlagzeilen bringt und ihr darüber hinaus—gerade jetzt, da noch zusätzliche Tickets verkauft wurden, um der hohen Nachfrage gerecht zu werden—wahrscheinlich ein hübsches Sümmchen bescheren wird. Es ist eine Tour, die keine Tour ist. Es hilft ihr, ihr Album zu finanzieren, und macht sie, zumindest in Großbritannien, zu einem großen Gesprächsthema für jedes Musikmagazin. Das Ganze hätte aber nicht funktioniert, wenn sich niemand dafür interessiert hätte.

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Es ist eigentlich auch ziemlich unfair, gerade PJ Harvey für so eine Aktion an den Pranger zu stellen. Ihr Ausstellungsprojekt fühlt sich immerhin wie eine stimmige Erweiterung ihres Schaffens an. Es bewegt sich dabei im Fahrwasser des wachsenden und unausweichlichen Trends unter Künstlern, auch abseits der traditionellen Geschäftsmodelle Wege zu finden, Kunst zu machen, die Geld einbringt und damit dann noch mehr Kunst zu machen. Es ist eine Sache, die mit Grips und Verstand angegangen werden muss, damit man am Ende nicht plötzlich seine Seele an einen Mobilnetzbetreiber verkauft oder im eigenen Musikvideo eine Bondage-Fellatio-Performance mit einer Beats Pill vollführt.

Jeder halbwegs intelligente Künstler versucht, seiner Kunst etwas Wert zu verleihen—und das in einer Welt, in der alle immer alles umsonst haben wollen. Da große Teile der alternden Musikindustrie allerdings weiterhin auf Zehenspitzen um den Elefant des Fortschritts herumschleichen, der ihnen über die letzten zehn Jahre immer wieder auf den schicken Wohnzimmerteppich geschissen hat, gibt es noch keinen soliden Handlungsrahmen, an dem sich progressive Künstler mit ihren Künstler-zu-Fan-Aktivitäten orientieren könnten. Dementsprechend findet jeder seinen eigenen Wert und kultiviert auf völlig unterschiedliche Art und Weise seine eigene Fanbase.

Der Rapper Nipsey Hussle aus L.A. hat zum Beispiel einen Karriereweg eingeschlagen, der ziemlich gut für ihn zu funktionieren scheint. Nach der Entscheidung, sein Major-Label Epic Records zu verlassen, veröffentlicht er seine ganze Musik jetzt digital und umsonst. Um seinen Unterhalt zu sichern, veröffentlicht er obendrein aber auch noch physische Kopien in extrem limitierten Auflagen. Sein erstes Mixtape verkaufte er zum Preis von 100 US-Dollar das Stück und machte davon 1.000 Exemplare. Jay Z kaufte gleich 100 Exemplare davon und auch alle anderen Kopien sind mittlerweile vergriffen. Den Preis für sein neuestes Werk legte Nipsey auf 1.000 US-Dollar fest und auch davon sind schon 60 in die Hände seiner Fans gewechselt. Kein schlechtes Geschäft für einen Solo-Künstler, der seine Sachen in Eigenregie veröffentlicht. Er verfolgt dabei ein Konzept, das sich in etwa so formulieren lässt: Willst du nur nebenbei Nipsey hören? Nur zu, es gibt alles im Netz! Willst du Teil seiner Geschichte werden, zu seiner Kunst und seinen zukünftigen Kollabos einen Beitrag leisten? Dann musst du investieren—und zwar ordentlich.

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Das, was Nipsey Hussle hier macht, ist letztendlich eine sehr einfache Form des Ethos', der hinter den Musikerkampagnen bei Kickstarter steht. Es ist die Erkenntnis, dass neues Kapital im Musikmarkt nicht zwangsläufig vom Gutdünken der Labelmaschinerie oder deinem Google-Ranking abhängt, sondern von der Hingabe und Loyalität deiner Fans—und vor allem Superfans. Es ziemlich genau das, was der Wirtschaftsautor Nicholas Lovell „[the curve](https://www.youtube.com/watch?v=pcyzn5oiDrI nennt)“ nennt: Eine Theorie digitaler Ökonomie, die er in seinem Buch gleichen Namens bespricht. Lovell führt an, dass die Urheber erkennen müssen, dass manche Menschen ihnen nie Geld geben und diese Schmarotzer sich auch in Zukunft den Kram immer umsonst besorgen werden. Gleichzeitig gibt es aber eine Gruppe ergebener Fans, die immer bereit sein werden, Geld auszugeben. Anstatt also ihre ganze Energie dafür zu verwenden, ihren Zorn über diejenigen auszulassen, die sich immer alles umsonst besorgen, müssen Künstler die treuen Fans umsorgen, denen das im Traum nicht einfallen würde. Die Art von Leuten, die Geld dafür hinblättern, um PJ Harvey dabei zuzuschauen, wie sie einen Mikroständer auspackt, mit TLC Aerobic zu machen oder Nipsey Hussles physische Tonträger zu kaufen—eben diese Menschen sind heutzutage wichtiger denn je.

Vor fünf Jahren hätte man sich kaum vorstellen können, dass El-P und Killer Mike 60.000 US-Dollar zusammenbekommen (die sie spenden werden), um ein Coveralbum mit Katzengeräuschen zu machen. Auf dem über Crowdfunding finanzierten Album Meow The Jewels werden ranghoe Gaststars von Portisheads Geoff Barrow bis hin zu Lil Bub vertreten sein—zwei Fans spendeten bei Kickstarter sogar 500 US-Dollar, damit das Miauen ihrer eigenen Katzen auf dem Album verwendet wird.

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oh my god what am I doing with my life. #MeowTheJewels

En video publisert av thereallyrealelp (@thereallyrealelp) Jan. 23, 2015 at 5:57 PST

Darin spiegelt sich die langsame Veränderung wieder, bei der die Ära des egoistischen Konsumenten, der sich alles nimmt und nichts gibt, langsam verblasst. Wie unzählige Tech-Seiten letzten Sommer berichteten, finden viele von uns, nach einem langanhaltenden Flirt mit der Internetpiraterie, langsam aber sicher auf den rechten Weg zurück. Ja, verdammt, ich habe mir letzte Woche sogar eine physische Kopie von D’Angelos neuem Album gekauft—mein Schuldgefühl war einfach zu groß, nachdem mir aufgefallen war, wie gut mein Torrent klang. Es fühlt sich gerade wie eine loyalere Ära der Versöhnung an, in der Künstler und Fans wieder zueinander finden—einer Zeit, in der wir in Scharen das RTJ2-Album kaufen, obwohl es zum kostenlosen Download bereitsteht; einer Zeit, in der wir uns durch Thom Yorkes bitTorrent-Anleitung wurschteln und einer Zeit, in der ein jüngeres Publikum sein Taschengeld begeistert für limitierte Zinepaks ausgibt—und ja, in manchen Fällen kaufen wir sogar wieder Vinyl.

Nur weil viele Künstler jetzt anfangen, auch abseits der ausgelatschten Pfade zu denken, heißt das nicht, dass sie nicht—wie schon in der goldenen Zeit der Majorlabel—korrumpiert werden können. Once Upon a Time in Shaolin vom Wu-Tang Clan stellt zum Beispiel eine absurde Verdrehung des ganzen Konzepts dar. Das ist dieses Album, von dem es lediglich ein Exemplar gibt, das in einer teuren Silberbox irgendwo in den Bergen von Marrakesch versteckt wird, während potenzielle Interessenten auf ihre Kaufkraft geprüft werden, bevor sie ihre Gebote von über einer Millionen Dollar abgeben dürfen. Begleitet von den ganzen Interviews—in denen eigentlich nur darüber geredet wird, wie viel es denn wirklich wert ist, anstatt darüber, wie es sich denn eigentlich anhört oder über die Feature-Artists, zu denen auch die Fußballmannschaft des FC Barcelona gehört—kann man eigentlich gar nicht anders, als die ganze Aktion durch und durch materialistisch zu sehen.

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Als ich Tarik Cilvaringz kontaktierte, den Wu-Produzenten, aus dessen Köpfchen dieses fantastische Konzept stammt, konnte dieser nicht mit mir sprechen, weil sich das Forbes Magazine alle Rechte daran gesichert hat, was 2015 um den Clan herum passiert. Aber eigentlich passt das doch gut ins Bild, oder nicht? Wenn Künstler die Rechte über jegliche Berichterstattung an eine Finanz-, Investment- und Businesswebseite verkaufen, die ihren größten Traffic einfährt, wenn sie einmal im Jahr die reichsten Milliardäre der Welt auflistet, dann sagt dir das schon etwas über die wahrscheinliche, künstlerische Intention bzw. das Nichtvorhandensein eben dieser. Dolla dolla bill y’all …

Wenn man über Wu-Tang irgendwas sagen kann, dann, dass sie schon immer eine Vorreiterrolle hatten—irgendwann wird garantiert jemand ihr Album kaufen und dann haben sie genug Kohle, um in Pension zu gehen. Andere Künstler wiederum sind gerade erst dabei, sich mit solchen Ideen anzufreunden. Egal, wie viele überschwängliche Social-Media-Posts du in den letzten Tagen von deinen Freunden gesehen hast, in denen die Worte „Björk“ und „OMG“ auftauchten, solltest du nicht vergessen, dass wir es hier mit einer Künstlerin zu tun haben, die eigentlich schon immer ein kompliziertes Verhältnis zu ihren Fans hatte. Vor zwei Jahren rief Börk einen Kickstarter ins Leben, der dann aufgrund mangelnden Zuspruchs wieder gecancelt werden musste. Natürlich hatte und hat Björk Fans—drei Millionen davon alleine auf Facebook—aber das Verhältnis zueinander wurde nie besonders gut gepflegt und am Ende mangelte es dann doch an Vielem.

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Björk hat daraus aber anscheinend gelernt. Im Vorfeld der Veröffentlichung ihres neuen Albums ging sie sogar so weit, jede größere Bekanntmachung an ihre Fans in Handschrift zu verfassen. Wenn du vergleichst, wie sie und wie Madonna reagierten, als vor kurzem unveröffentlichte Musik von beiden im Netz auftauchte, wird deutlich, wie gut Björk den unendlichen Wert loyaler Fans in der modernen Musikwelt erkannt hat. Madonna, ein Relikt aus der goldenen Ära der Popindustrie, reagierte fuchsteufelswild, verglich den Leak mit „Vergewaltigung“ und „Terrorismus“ und machte den Täter mithilfe eines ganzen Teams aus Ermittlern in Israel dingfest. Im hohen Norden, in Island, nahm Björk den Leak hingegen als Teil des modernen Künstlerdaseins einfach hin, verfasste einen weiteren persönlichen Brief an ihre Fans, in dem sie den Vorfall mit keinem Wort erwähnte, und veröffentlichte dann einfach das Album vor seinem eigentlichen Erscheinungstermin. Ihr Label beschrieb den Leak, der zwei Monate vor dem offiziellen Veröffentlichungstermin passierte, als ziemlichen „Albtraum“, entschied sich aber dagegen, rechtliche Schritte einzuleiten. Björk ist jetzt in aller Munde, eventuell verkauft sie auf die Art mehr Platten als mit dem geplanten regulären Release. Also kein Problem.

Je mehr einzigartige und exklusive Produkte jedoch im unsteten Gelände der modernen Musiklandschaft auftauchen—während die veralteten Grenzen der Industrie gleichzeitig verblassen—bei denen mit Kosten und Wert mehr improvisiert wird als bei Scatman John in den 90ern, desto schwerer fällt es mir, überhaupt noch einzuschätzen, was eigentlich welchen Wert hat. Soll ich 1.000 US Dollar für eine Nipsey Hussle-CD hinblättern, wenn ich eine Special Edition des Run The Jewels Deluxe-Vinyls für 30 Euro haben kann? Oder soll ich einfach komplett durchdrehen und mein sauer verdientes Gehalt in drei Voicemail-Nachrichten von TLC’s T-Boz investieren?

Andersherum könnte man aber auch meinen, dass der fehlende Maßstab der Sinn des Ganzen ist. Dieser aufstrebende Marktzweig basiert zunehmend auf dem Fundament von „irgendwelche Idioten werden den Scheiß schon kaufen“. Vielleicht ist das aber auch nur ein Schritt weg von Musik als Kunstform, die mit einem Einheitspreis und einer Einheitsverpackung versehen ist—wie es im letzten Jahrhundert der Fall war. Der monetäre Wert des Outputs eines Künstlers spielt eine zunehmend geringere Rolle, wenn es nur noch darum geht, wie sehr man das, was man bekommt, wirklich will. Die Musiker-zu-Fan-Landschaft mutiert dabei zu einem Reich fließender Grenzen, in dem 9,99-Euro-Alben und Konzertkarten immer weniger die Hauptrolle spielen. Stattdessen sehen wir immer mehr maßgeschneiderte, super individuelle Specials, die den einzelnen Fan miteinbeziehen, die Bindung stärken und Mittelsmänner außen vor lassen. Unsere künftigen Investitionen in Musik und die mit ihr verbundenen Kunstformen—seien es jetzt Ausstellungskonzepte, Coversongs mit Katzensounds oder in Heimarbeit zusammengestellte Mixtapes—drehen sich immer weniger um die Frage „Was soll das kosten?“ und immer mehr um „Wie viel würde ich dafür ausgeben?“

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