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Kein Alk—dafür Bibelkurse für hungernde Kinder: Heavenstage Festival

Wir waren an einem evangelikalen Open Air ohne Alkausschank. Tatsächlich waren Leute da. Die hatten den Spass, wir den Kulturschock.

Ich war in meinem Leben schon an christlichen Musikfestivals. Und normalerweise wird dort auch Alk ausgeschenkt. So von wegen: Dies ist mein Blut. Trinket alle davon. Oder so ähnlich.

Darum geriet das Open Air Heavenstage in unser Fadenkreuz. Es gibt keinen Alkohol, dafür stoppt die Musik schon um 2.00. Wie feiern Leute nüchtern? Kommen überhaupt Leute? Wenn ich ein Eventmasochist bin, ist der Fotograf Eventsadist: Er schleppt zwei Freunde mit, die keine Akkreditierung haben und nicht wissen, wohin wir gehen. Dagegen bin ich ein Samariter mit meinem Flachmann voll „Talisker“.

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Am Einlass sehen wir auf der Akkreditierungsliste, dass NOISEY 66,6% aller Journis an diesen Ort geschickt hat. Ausser uns findet sich noch jemand von einem Radio namens Life Channel. Keine Chance also für die Kumpels von unserem Sadomaso-Fotografen. Sie laufen schliesslich von hinten auf das Gelände und werden dort als vermeintliche Shuttlebus-Fahrer eingelassen.

Wir erwarten sie beim Kühlwagen der Falken-Brauerei. Falken-Brauerei—gibt es doch Bier? „Nei, de isch efach vo de Landi gmietet. Drum stoht Falke-Bier druf. Wenn überhaupt, trink ich lieber öppis anders“, sagt uns ein OK-Typ.

Etwas oberhalb vom Zeltplatz vergnügen sich verschlammte Leute im Pool; irgendwo hängt ein Banner mit Aufschrift „Praystation“; am Stand daneben kann man auf einer Nintendo-Konsole Mario Kart spielen. Die Leute haben Spass. Der Zeltplatz selbst ist unglaublich ordentlich. Suchtmittelmässig erspähen wir nur eine leere Panaché-Dose und sprechen mit einem Stadtrand-Kind, das an einer Elektro-Shisha zieht. Natürlich: „Ohni Nikotin.“

Wir fühlen uns recht bald recht schlecht. Als degenerierte Stadtmenschen, die das Landvolk und seinen Messias ins Lächerliche ziehen wollen. Auch um zwei Eintrittspreise haben wir die Veranstalter betrogen. Und: Die Leute hier sind glücklich. Sie kompensieren Alkohol, Gras und anderes mit keuschem Schlammcatchen und dem Heiligen Geist. Wir fragen uns zum Organisator durch.

Walti beantwortet gerne einige Fragen: „Die wo chöme, sind hald us andere Gründ do as amne säkulare Open Air. Sorry, das isch efach es anders Denke.“ Ich entgegne, dass ich privat ja auch staubsauge. „Klar, gits unter de Christe Lüt, wo Söihünd sind, wo Tuble sind. Aber es chunt au vom Glaube her, me tuet enand nid bös. Sie wüssed eifach: Sorry, das ghört sich nid. Amne säkulare Festival, sigs Frauefeld, ischs hald au geil Abfall anezrüere.“

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Zum Thema Alkohol meint er: „Sorry, ich cha doch nid es christlichs Festival mache und denn Alkohol verchaufe. Ich trinke gern Alkohol. Ich trink gern es Bier. Ich ha au gärn Wii. Abr ich ga das sicher nid, da go verchaufe. Die Wert wet ich eifach witergä. Und es hed au viel Minderjährigi.“ Reich wird man nicht an einem Open Air ohne Zapfhahn: „Mir chöme finanziell immer wie duur es Wunder use. S isch das Johr s sechste Mol und s erste Mol, wos e so pisst.“

Wir verabschieden uns zur Instant-Predigt vor die Bühne: „Gott isch wie Räge am Heavenstage! Du bisch villich do, wild wenig zahlsch und e potenzielli Fründin möchtsch finde, aber Gott cha jederziit i dis Läbe inebreche. Au wenn du übersteckt mit Scheisse bisch. Umspüelt mit Schlamm, wie dä 50-Räppler, won ich am Igang gfunde han. Gott gseht dich i dere Scheisse.“ Dann spielen die „Justin Biebers us Düütschland“: warumlila singen „Das wird die beste Nacht!“ und brabbeln in einem Marteria-Cover was von Gin Tonic.

Wir begeben uns zum Bücherstand, wo es unter anderem Literatur von ICF-Gründer Leo Bigger gibt. Blickfang ist aber „Moral Revolution: Die nackte Wahrheit über sexuelle Reinheit“. Der Klappentext sagt uns, dass „[…] diese neue Revolution Reinheit und die Ehe“ schätzt und „Perversion als Sünde sieht“.

Später lasse ich mich vom Hilfswerk „Compassion“ beraten. Auf deren Banner steht: „Verändern Sie das Leben eines Kindes im Namen Jesu […]“ Laut einem Plakat hat man hier und heute schon fünf Kinderleben verändert. Grossartig! Im Gespräch stellt mein Berater dann auch die „garantierte christliche Erziehung“ in den Vordergrund. Die Nahrung kommt zirka als dritter Punkt in seiner Aufzählung und nachhaltige Hilfe traut er „Compassion“ nicht zu.

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Auf der Bühne promotet jetzt ein australischer Songwriter sein Merchandise-Angebot, um dann ein Lied über Reflexion zu singen: „[…] Well, I've questioned my significance, meaning and relevance. Does the work I'm doing really matter at all? Well, I've questioned my friendships, alliance, dependence. Who will still be here when I fall? But the one thing I don't question is You.“ Fuck you! Da sind mir Dauerzweifler-Katholiken lieber. Ehrlich.

Dann spielen Bella Rive. Sie sind eine Art The Doors mit anderem Gotteskomplex und haben einen Vertrag beim christlichen Major-Label Capitol Christian Music Group. Um investigativ zu trinken, tarne ich meinen Flachmann mit evangelikalen Flyer. Die nüchterne Ausgelassenheit der anderen deprimiert mich: „Let there be light! Let there be love! Living in freedom. Let there be grace.“

In einer Setpause hält der Sänger einen Promo-Vortrag über mein neues Lieblingshilfswerk. Da wir im Hinterland sind, übersetzt jemand Englisch-Thurgauerdeutsch. Die Passagen „[…] die Chind werded au gfüetteret.“ und „Gönd wenigstens mol an Stand go luege, was das für Chind sind, wo döt usgstellt sind.“ waren unsere Highlights des Abends.

Im Auto fragen wir uns dann, wie es die Heavenstage-Gäste schaffen, nüchtern im Schlamm zu schlafen. Deren Problem. Wir sind mit unserem Kulturschock beschäftigt.