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Ich war beim ESC-Halbfinale und habe es nicht geschafft, es scheiße zu finden

In der Stadthalle wurden gestern auch die absurdesten musikalischen Beiträge so kompromisslos gefeiert, dass man gar keine Chance hatte, grumpy zu sein.

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Jedes ordentliche Mega-Event hat seine kleineren und nicht ganz so glamourösen Nebenveranstaltungen. Im Falle des Eurovision Song Contests sind diese Veranstaltungen die Halbfinale. Sie sind so etwas wie die kleinen, pummeligen, uncoolen Stiefschwestern des ESC. Kein Wunder, dass ich ausgerechnet für das erste Halbfinale eine Karte geschenkt bekommen habe, weil jemand anders nicht hingehen wollte. Aber wenn schonmal so ein gigantischer Zirkus in der Stadt Halt macht, dann sag ich halt auch nicht nein.

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Wenn dir im Vorhinein einer Veranstaltung aber auch schon bewusst ist, dass dich ein Abendprogramm voll mit ganz katastrophal fürchterlicher Musik erwartet, musst du dir einen Art Lichtblick suchen, der dafür sorgt, dass du am Ende der Party nicht eine Depression erleidest. Für mich ist es ein ganz besonderer Anreiz, den das erste Halbfinale hat: Von den 16 Beiträgen sind nämlich 10 aus osteuropäischen Ländern. Und wer den Song Contest schonmal gesehen hat, weiß, dass die Osteuropäer das ganze Event musikalisch gesehen irgendwie noch ein bisschen ernster nehmen, und in Folge oft Acts hinschicken, die so unfreiwillig komisch sind, dass sie einen schon wieder auf ganz eigene Art und Weise unterhalten. Diese Unterhaltung ist mein persönlicher Hoffnungsschimmer, als ich mich auf den Weg in die Wiener Stadthalle mache.

Ich gehöre zu der Sorte Mensch, die beim Besuch von Großveranstaltungen ja immer das Schlimmste erwartet. Wofür ich den Song Contest bei aller musikalischer Schwachsinnigkeit aber dann eigentlich doch schätze, ist seine Symbolträchtigkeit, wenn es um Toleranz und alles drum herum geht. Wie queer der ESC tatsächlich ist, wird mir aber erst am Weg zur Stadthalle bewusst. Regenbogenflaggen wehen an jeder Ecke, Drag Queens sitzen ganz selbstverständlich neben dir in der U-Bahn und es ist auf einer öffentlichen Veranstaltung tatsächlich endlich mal so, dass es gar nicht weiter auffällt, wenn man ein Pärchen sieht, das aus zwei Männern besteht. Die Stadthalle selbst ist, als ich kurz vor Showbeginn dort ankomme, nicht bis auf den letzten Platz gefüllt. Vor allem auf den Rängen hätten noch einige Leute Platz gefunden. Aber zumindest fühlt man sich nicht wie eine Ölsardine. Eigentlich ist es hier fast gemütlich. Gigantisch wirkt das hier alles trotzdem.

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Weitere Erkenntnisse: Im Publikum werden tatsächlich eine Million unterschiedliche Sprachen gesprochen. Da sind also wirklich Leute aus ganz Europa angereist und haben sich ziemlich teure Karten gekauft, um hier dabei sein zu können, und wie besessen mit ihren Landesflaggen (oder Regenbogenflaggen) zu wedeln. Im Gegensatz zu einer Sportveranstaltung wirkt es aber nicht einmal im Ansatz, als würde hier wirklich Rivalität zwischen irgendjemanden herrschen. Dann beginnt die Show, hinter der ohnehin schon gigantischen Bühne taucht plötzlich ein richtiges Orchester auf, und die Person, die diesen Hype hier verkörpert wie niemand anderes, kommt auf die Bühne: Conchita Wurst. Die Menschen im Publikum drehen komplett am Rad.

Was ist das, bekomme ich gerade Gänsehaut? Was passiert mit mir? Verdammt, diese Euphorie steckt mich offensichtlich tatsächlich an. Das ist jetzt zwar die hohlste Phrase, die man nur dreschen kann, aber irgendwie wirkt es in dem Moment wirklich so, als würde es für viele Leute in dieser Halle gerade wirklich um etwas gehen. Conchita scheint vielen Besuchern hier wirklich etwas zu bedeuten, und gegen diese Atmosphäre schafft mein Hirn es offensichtlich nicht, sich zu wehren.

Direkt im Anschluss werden die Teilnehmer unter tosendem Jubel in der Halle empfangen. Dann beginnt der eigentliche Song Contest mit meinem absoluten Lieblingsland der musikalischen ESC-Trash Beiträge: Moldavien. Seitdem das Land im Jahr 2010 mit dem Epic Sax Guy den vermutlich absurdesten und meme-trächtigsten Beitrag aller Zeiten beim ESC abgeliefert hat, bin ich fast so etwas wie ein Fan. Und ich werde nicht enttäuscht:

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Ungefähr in dieser Manier des musikalischen Unsinns geht es die nächsten 10 Beiträge weiter. Aber verdammt, die Leute lieben es. Mir wird langsam aber sicher bewusst: Das Publikum hier feiert einfach alles. Also wirklich jeden Act. Es interessiert niemanden, ob das hier Halbplayback ist oder nicht, kein Mensch hier drinnen unterhält sich darüber, wie gut oder schlecht der Sound in der Halle ist. Die Leute in dieser Halle zelebrieren ganz einfach die kompromisslos positivste Party, die man sich überhaupt nur vorstellen kann. Egal wer auf die Bühne kommt, das Publikum jubelt sich die Seele aus dem Leib. Du kannst bei so viel Enthusiasmus rund um dich natürlich versuchen, weiter ein Miesepeter zu sein. Aber glaub mir, wenn du nicht gerade die Mensch gewordene Grumpy Cat bist, wird es dir schwer fallen. Ich kann jedenfalls langsam aber sicher gar nicht mehr anders, als gut drauf zu sein. Mir fällt aber auch auf, dass, sobald auf der Bühne das Wort „Russia“ fällt, immer zumindest ein paar Leute zu buhen beginnen. Der Jubel ist trotzdem auch da immer lauter. Die Toleranz, die sich der ESC im wahrsten Sinne des Wortes an die Fahnen geheftet hat, scheint zumindest hier drinnen wirklich zu existieren. Offensichtlich wildfremde Leute aus unterschiedlichen Ländern umarmen sich, kreischen und jubeln, als wäre es die letzte Party, die sie jemals besuchen würden. Irgendwie ist das hier alles erstaunlich.

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Ein Mädchen neben mir versucht mit leichten Koordinationsschwierigkeiten überdimensionalen Rumänien-Flagge zu wehen, und watscht sie mir dabei, ohne es zu merken, alle zwei Sekunden ins Gesicht, aber nicht mal das kann meine Laune hier drinnen trüben. Und die Bühnen- und Lichtshow sind zumindest aus technischen Standpunkt dermaßen spektakulär, dass ich gar nicht anders kann, als zwischenzeitlich ein bisschen begeistert zu sein. Außerdem amüsiere ich mich Runde für Runde mehr über die teilweise wirklich sensationell absurden Beiträge mancher Länder.

Manche Auftritte sind so dämlich, das es mir wirklich sehr schwer zu fällt zu glauben, dass irgendein Mensch im Universum das wirklich ironiefrei gut findet. Aber ich bin unfähig mich darüber aufzuregen. Im Gegenteil, im Laufe der Veranstaltung blühe ich sogar zum richtig glücklichen, kompromisslos gut gelaunten Burschen auf. Den Acts auf der Bühne Respekt zu zollen und ihnen applaudieren fällt einem hier drinnen auch beim größten musikalischen Blödsinn nicht schwer.

Belgien ist das Land, dessen Beitrag noch am ehesten nach einem Song klingt, der das Potenzial hat, auch hierzulande ein wirklicher Mainstream-Radiohit zu werden. Der einzige Beitrag, den ich persönlich aber wirklich super, ist der der Finnen. Nicht, weil die Band aus vier Kerlen besteht, von denen drei Down Syndrom haben und einer Autismus, sondern weil sie einen richtigen, klassischen, straighten Punkrock Rock Song „spielen“ (wirklich live spielen tut hier ja ohnehin keiner, lediglich die Stimmen sind nicht Playback), und ich ihren Auftritt ganz ehrlich einfach cooler finder als das ganze andere Zeugs hier.

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Sie scheiden am Ende trotzdem aus, was mich kurz doch ein bisschen deprimiert. Auch wenn ich nicht glaube, dass das wirklich etwas mit fehlender Toleranz zu tun hat. Die Leute in der Halle jubeln bei ihrem Aufrtitt jedenfalls auch kompromisslos. Aber es scheint hier ohnehin kein Ort zu sein, an dem man sich groß über Dinge aufregt, also fange auch ich jetzt nicht mehr an, mich laut zu beschweren.

Heute kann ich behaupten: Ich bin als kleiner Miesepeter zum ESC-Halbfinale gekommen, habe sehr viel bescheuerte Musik gehört, und bin trotzdem als Happy Camper wieder rausgekommen. Song Contest Euphorie funktioniert also offensichtlich auch bei Pessimisten.

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