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Ich war am Truckerfestival und wollte sterben!

Zwei Wochen nach dem Greenfield nehmen all die eidgenössischen Wannabe-Cowboys das Festivalgelände in Beschlag. Wir waren dabei!

Die Festivalzeitung vom 21. „Trucker- und Countryfestival Interlaken“ ist recht freigiebig mit Superlativen—über die Besucher steht da: „So spannende Menschen wie am Truckerfestival gibt es sonst nirgends! Über Generationen hinweg verschwinden Sprachgrenzen, sozialer Status wird unwichtig und Westernspass, Lebensfreude und Geniessen nehmen Überhand!“

Übersetzt heisst das: Lass dem Niveau keine Chance! Gleichzeitig ist es für uns von VICE eine Einladung zu gepflegtem Peoplewatching. Darum sind wir da.

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Aber für küchensoziologische Untersuchungen entsprechen die Besucher zu exakt dem Cast von „My Name is Earl“, um 13 Uhr—nach dem zweiten Bier (7 Franken plus Depot)—glauben die Fotografin und ich schon eher an die Pseudowissenschaft der Physiognomik: Alle Besucher haben angestrengte Stirnfalten. Nachdenkliche Cowboyposen halt. Frauen wie Männer entscheiden sich für Brust oder Bauch und drücken die gewählte Körperpartie bis zum Anschlag raus.

Cowboyhüte sind die Converse des Anlasses. Konföderierten Flaggen schlagen Stars&Stripes-Aufnäher zahlenmässig. Eine Frau trägt einen pinken Pulli mit der Aufschrift „Broke but beautiful.“ Ich sichte ein „The Exploited“ -Shirt, leider auch ein „Dropkick Murphys“-Shirt.

Sonst trägt jeder, der keinen Wolf-Indianer-Kitsch trägt, Karohemden mit dem Charme und dem Design von Küchenvorhängen aus den 80ern. Wir haben also investigativ herausgefunden, an welche Leute Yendi, Zebra und Vögele ihre Kleider verschachern. In einem ewigen Labyrinth aus Ständen—einem „Westerndorf“ in Truckerfestivalsprech—kann man Schirmhüte von Frisco, Country-Kreuzfahrten von Hotelplan und andere Dinge gewinnen, die ich mit dem „Sofort kaufen!“-Button bei einem Franken auf Ebay stellen würde.

Eines der grössten Zelte hat das ROCKSTAR-Magazin. Der auf Dauerschleife getrimmte Moderator sagt dort drin Dinge wie „Und jtz müend üsi Girls de Wage widr butze. Loos!“ Und darauf kommen drei von Rockstar „gebrandete“ Wet-T-Shirt-Girls aus einer Türe und räkeln sich auf einem Rockstar-Pickup, machen sich und geifernde Männer nass.

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Und in den hinteren Bankreihen gaffen die Männer (und Frauen und Teenies und Kinder) mit demselben stieren Blick unter den Cowboyhüten hervor. Und ich sehe sowas zum ersten Mal und frage mich: Machen die das hauptberuflich? Wie steht der ganze (auch weibliche) Rockstar-Staff hier zu diesen „erotischen Tänzerinnen“? Warum ist das Publikum so stockimarschig? Dann ist die Darbietung schon vorbei. Der Moderator sagt: „Und jtz hemr üs entschiede s Auto echli z verdräcke, damits üsi Girls nochher widr dörfe putze!“

Das Bier hier ist teuer und darum gehen wir auf den Campingplatz, denn auf Campingplätzen findet man immer Spender und Freunde. Und tatsächlich rennt bald ein hyperaktiver Automechaniker oben ohne auf uns zu. Der will uns direkt adoptieren. Der Automechaniker kommt jedes Jahr fürs Greenfield und Trucker: „Vor zwe Wuche isch das alles no Greenfield gsi. Immer genau s gliche Areal.“

Der Automechaniker ist okay, entspannt unsere der ortsüblichen Spannung anpassenden Stirnfalten mit zwei, drei Zügen von einem Joint. Ein paar seiner Freunde allerdings sind Schweine. (Alle nach eigener Aussage „pumpuhegelkaschtärnuvolle“.) Eine solche Dichte aus Juden-, Jugo-, Vergewaltigungs- und Kinderschänder-(Belgier-)Witzen habe ich seit der Oberstufe im Aargauer Hinterland nicht mehr gehört.

Pointen egal, Publikum egal. Kostprobe: „S Chind vomne Schwiizer, emne Jugo und emne Afrikaner wird im Chreissaal verwechslet. De Schwiizer goht z erst ine und nimmts s Schwarze mit. Werum? Es isch emol sicher nid de Jugo.“ Ja….haaaa…äh…haaa und das ihr euren Kolleginnen zwischen die Hotpants (Mit Comment: „Schöni Ussicht…die nimm ich hüt Abe no.“) gafft ist auch haaa…äääh haa. Ja, wir sehen uns sicher noch. Tschüss.

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Wir gehen zurück aufs Gelände, trinken Bier und Caipirinha, damit wir fähig werden, mit den Leuten hier Gespräche zu führen. Fragen wir hier Gäste um die Erlaubnis ein Foto zu machen, antworten sie uns: „Wieso denn? Wänd er es Bild vo Dick und Doof?“ Das ist das vorherrschende Selbstwertgefühl.

Im von „Villiger Zigarren“ gesponserten Teilareal können wir uns gratis „Krumme“ (die ganz üble Alte-Männer-Zigarre) drehen. „Das Kautschuk isch aso rein pflanzlich. Drum chönd er au wenn ehr Vegetarier oder so öppis sit unbeschwärt rauche.“ Ja, danke. Wir kaufen uns noch eine Zigarre. Nikotinflash in den Alkrausch.

So stochere ich in den Limetten von meinem Caipirinha, ziehe an meiner Villiger-Zigarre und schaue auf das Alpenpanorama. Angelehnt an das Absperrgitter der Villiger-Schlammcars (Keine passende Bezeichnung ohne Product Placement möglich.) akzeptiere ich dieses Universum, akzeptiere die Aussicht in diesem Redneck-Reservat weiterzuleben.

Ich würde einfach Pegeltrinker werden müssen. Aber die Berge, die Aussicht… Schlammwelle! Ein besonders origineller Schlammcar-Fahrer hat so gedriftet, dass eine Welle aus Dreck auf meinem Gesicht, meinen Kleidern, sogar an der Zigarre hängen bleibt.

Es wird nichts. Es passt nicht. Ich gehöre nicht in diesen Konföderierten-Club. Da hilft noch so viel Bier nicht. Trotzdem werfen wir unser letztes Münz für zwei 7-Franken-Dosen zusammen. Wir sind halt eben doch pegeltrinkende Eventmasochisten.

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Wir wollen unsere Presseausweise noch nutzen und wenigstens kurz das Konzertzelt besuchen. Wir setzen uns. Wir nippen am Bier, sind müde von Sonne und Stumpfsinn. Das war ein Tag wie „Bauer sucht Frau…“-Bingewatching. Endlich kommt der Moderator auf die Bühne…und ja! Ja!!! Wie kann es anders sein: Es ist Sven Epiney! Mit hurtig-gmögigen Aufstreckfragen heizt er dem auf die Festbänke verteiltem Publikum ein.

Bei „Wär vo üch hed meh as föif Hirnzälle?“ bleiben die Hände unten. Wir gehen, schenken unsere Presseausweise den ersten Karohemdträgern am Bahnhof Interlaken. Freuen uns über deren Freude. Zuhause werde ich jedes karierte Hemd feierlich verbrennen.

Folge Benj auf Twitter: @biofrontsau