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„Ich bin Sänger, aber wenn die Russen kommen, dann greife ich zu den Waffen.“

Wir sind nach Kiew gereist, um ukrainische Musiker zu treffen, die ihr Leben für die Revolution riskierten.

Alle Fotos von Volodymyr Shuvayev

Das Wetter in Kiew war komisch—der Himmel war klar, die Sonne schien. Aus dem Nichts zog plötzlich Wind auf und mehrere heftige Sturmböen wüteten durch die Stadt. Ich saß im Café Arbequino—einem gemütlichen Lokal im mediterranen Stil, das sich nur einen Straßenblock entfernt vom Maidan befindet, dem Schauplatz der ukrainischen Revolution, die im Februar Präsident Janukowitsch aus dem Amt vertrieb. Als eine Art von Solidaritätsbekundung trugen die Bedienungen des Cafés an diesen Tagen militärische Tarnkleidung. Ich unterhielt mich mit einer Psychologin, die ich bei einem Dakha Brakha-Konzert kennengelernt hatte, über Emotionen—wir sprachen darüber, dass Angst und Aufregung fast die gleichen Emotionen sind. Ihr Name, so sagte sie mir, könne entweder als Viola oder Violet übersetzt werden. „Dein Name ist also entweder ein Musikinstrument oder eine Farbe?“—derartig galantes Benehmen, das ich mich in London niemals trauen würde, schien hier gut anzukommen.

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Angst einfach als Aufregung zu sehen—das nimmt einem viel Last von den Schultern. Diese Stadt hat schon ein krankes Gespür für komische Zufälle und während wir uns unterhielten, entwurzelte eine heftige Windböe den Baum vor dem Café. Er landete auf einem Auto, beulte das Dach ein und löste die Alarmanlage aus. Zusammen mit dem Baum wurde auch das Glühbirnen-Arrangement vor dem Café niedergerissen, wodurch nicht unweit von unserem Tisch die nackten Kabel bedrohlich knisternd von der Wand baumelten. Es war angsteinflößend aber gleichzeitig auch aufregend. Wir fühlten uns wie die Drehbuchautoren unseres eigenen Lebens. Wir konnten Dinge geschehen lassen, indem wir einfach darüber sprachen—ganz so als ob wir damit nur eins unserer Argumente veranschaulichen wollten.

Wenn man die Nachrichten verfolgt, bekommt man schnell den Eindruck, dass die Ukraine ein Ort ist, der ständig kurz vor einem politischen Umsturz steht. Nachdem 2004 pro-demokratische Demonstranten die korrumpierte Wiederwahl von Viktor Janukowitsch mit der orangenen Revolution verhindert hatten, ist Kiew immer wieder Schauplatz beachtlicher ziviler Unruhen gewesen. Als (der diesmal gewählte) Janukowitsch 2013 die Entscheidung traf, sich öffentlich von dem Assoziierungsabkommen mit der europäischen Union zurückzuziehen und die Ukraine stattdessen für billiges Gas auf eine Linie mit Putins Russland zu bringen, kamen die Menschen aus dem ganzen Land in den Straßen um den Maidan herum zusammen, um ihr Land zu verteidigen. Der Rest dürfte bekannt sein: blutige Kämpfe bei eisigen Temperaturen, die mit Janukowitschs Absetzung endeten, und denen ein quasi-Bürgerkrieg um die Herrschaft über die Krim wie den Osten der Ukraine gefolgt ist, der Tag für Tag an Brutalität zunimmt.

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Kiew ist dabei weiterhin ein gefährlicher Schauplatz des Konflikts, aber die jungen Menschen hier machen zwischen Politik und Alltag keinen Unterschied. Ich war allerdings von der schieren Anzahl hochwertiger Bars und Cafés in der Stadt überrascht. Dort gibt es Orte wie die Paravoz Bar, in der eine komplette Wand von einer Filmprojektion überzogen ist, die einem das Gefühl gibt, man würde einen Zug aus den 1960ern besteigen. Kiew erinnert mich ein bisschen an Berlin kurz nach dem Mauerfall und ich kann mir gut vorstellen, wie es das neue Berlin wird: als Zentrum für Kunst, abseitige Elektronika und ausschweifendes Nachtleben.

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Genau wie damals in Berlin beschäftigt auch hier viele die Frage, auf wessen Seite sich die ganzen Musiker, Künstler und Kreativen eigentlich befinden. Dieses Thema, wie involviert die Musiker während der Aufstände in der Ukraine eigentlich gewesen sind, ist zu einer großen Streitfrage geworden. Jede Entscheidung, die einzelne Bands getroffen haben, hat für sie Konsequenzen nach sich gezogen. Einige Künstler konnten sich dadurch, dass sie die Revolution unterstützen, über zunehmende Beliebtheit freuen—so wie der Rockstar Slavik Vakarchuk, dessen Band Okean Elzy 2013 ein früher Unterstützer der Euromaidanproteste war. Die HipHop-Crew TNMK hat viele Shows zur Unterstützung der Protestler gespielt, während andere Musiker sich persönlich engagierten: Der Boombox-Frontmann Andriy Hlyvnyuk—die beste Pop-Soul-Stimme östlich von Paris—hat sich als Notarzt und Fahrer betätigt. „Mir war nicht danach, Musik zu machen“, sagt Jazzpianist Ilya Yeresko von der Salsa Band Los Dislocados. Er gab seine ungewöhnliche Position als ukrainischer Vorreiter lateinamerikanischer Musik für auf, um den Zeitraum bei den Protesten zu helfen. „Ich entdecke zum ersten Mal in meinem Leben, dass es etwas gibt, das wichtiger als Musik ist.“

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Andere wiederum büßten etwas „Street Credibility“ ein (wahrscheinlich einer der wenigen Fälle, in denen dieser überstrapazierte Begriff wirklich etwas bedeutet), indem sie keine Konzerte auf dem Maidan spielen wollten. Oleh Skrypka, Bandleader von Vopli Vidopliassova—einer ehemaligen Punkband, die sich immer mehr in Richtung Psychedelic und ukrainische Folkmusik entwickelte—begründete mir gegenüber, dass er nicht auf dem Maidan auftrat, wie folgt: „Ich wusste, dass es dort zu Gewalt kommen würde, und ich wollte die Fans nicht dazu aufmuntern, vorbeizukommen, um dann für ihren möglichen Tod verantwortlich zu sein.“ Seine Kritiker sagen wiederum, dass er entweder zu feige war oder es sich mit der möglichen Siegerseite nicht verscherzen wollte.

In jedem Fall war die Musik während der Revolution das Schlüsselelement, um die Lebensgeister zu wecken und die Protestler zu vereinigen. Die meisten Bands, die während der Aufstände vor den Menschenmassen spielten, wussten nur zu gut, wie schmal der Grat zwischen Aufregung und Angst war. Die Dakh Daughters, die zu Heldinnen der Revolution avancierten, etablierten sich als eine Art Hausband des Maidan.

„Wir spielten auf den Bühnen, aber wenn die Situation es erforderte, sangen wir auch direkt neben den Barrikaden“, so Tanya Hawrylyuk, die Pianistin und Akkordeonspielerin der Dakh Daughters. „An manchen Tagen war es sehr gefährlich und Menschen starben—auch Menschen, die ich kannte— aber irgendwie hatten wir keine Angst.“ Auf ihrem Euromaidan-YouTube-Video kannst du sehen, wie sie vor einem großen Militäraufgebot, den Polizeikräften und einer verzauberten Menschenmenge spielen.

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Die Band trägt auffällige Mäntel, die typisch für Schäfer in den Karpaten sind, und verwendet oft weiße Gesichtsfarbe. Die Gruppe findet sich so in einer Burlesque-Tradition ein, die laut Oksana Forestina, der Redakteurin einer ukrainischen Literaturzeitschrift, Jahrhunderte zurückreicht, als Kiew ein Zentrum des Bürgertums mit verhältnismäßig großen religiösen Freiheiten war. Sie vertritt auch die Theorie, dass es die Ukrainer waren, die das Kabarett nach Paris brachten.

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Die Dakh Daughters spielen vor versammelten Demonstranten.

Die Musik der Dakh Daughters ist im weitesten Sinne esoterisch—Elemente des englischen Minimalkomponisten Michael Nyman treffen auf Versatzstücke von Carl Orff, die Instrumentation ist dem leidenschaftlichen ukrainischen Folk entnommen und dazu kommt noch ein Hauch von dem, was sie selber „Freak Cabaret“ nennen—all das vorgetragen mit der ungestümen Energie des Punk. Mit dem britischen Trio Tiger Lillies teilen sie außerdem die Vorliebe für dystopisch-theatralische Übertreibung. Was die Texte angeht, so verfolgen sie einen sehr eigenwilligen Ansatz: in der Regel bedienen sie sich bei Textzeilen aus den relevantesten und inspirierendsten Werken, die sie kennen. Einer ihrer „Hits“ (sie müssen erst einmal eine Platte veröffentlichen) ist eine Version von Shakespeares Sonnet 35, dessen Chorus auf Englisch gesungen wird und der die Zeile enthält „Such civil war is in my love and hate“, die sie zu „The Rose of Donbass“ ummünzten. Das Lied ist eine Anspielung auf die Region im Osten des Landes, in der bewaffnete Separatisten die Bevölkerung abhielten, bei der letzten Wahl ihre Stimme abzugeben.

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Dakh Daughters singen auch die Folklieder der ukrainischen Frauen—„Lieder über das ewig Weibliche—Lieder über die Natur, über Tod und Wiedergeburt. Die starken, schönen Frauen sind der größte Schatz des Landes.“ Andere Lieder wiederum klauen/samplen Texte von Charles Bukowski bis zu großen ukrainischen Schriftstellern wie Taras Schewtschenko. Ihr „künstlerischer Leiter“ ist Vlad Troitsky, eine wahre Kulturinstitution der Ukraine, der das alternative Gogolfest auf die Beine stellt, ein experimentelles Theater gegründet hat und außerdem „künstlerischer Leiter“ von Kiews anderer interessantesten Band ist: Dakha Brakha. Dakha Daughters wurden schon dezent absurd als die „revolutionären Spice Girls“ bezeichnet, aber in den Worten von Vlad Troitsky, ihrem „künstlerischen Leiter“ sind sie „eher wie Pussy Riot—mit guter Musik. Die ganze Pussy Riot-Geschichte hat sich schon fast erledigt, weil ihre Musik einfach nicht spannend ist.“

Die Euphorie, die mit der Absetzung des gehassten und korrupten Präsidenten Janukowitsch im Februar einherging, wurde erheblich dadurch getrübt, dass gegen Ende der Proteste ungefähr 100 Demonstranten durch Scharfschützen umgebracht worden waren. Als die Menschen dann hofften, aus diesem blutigen und bitterkalten Winter in ein normales Leben zurückkehren zu können, kreuzten die Annexion der Krim durch Russland, sowie die Unruhen und das Chaos im Osten des Landes ihre Pläne. In Kiew gibt es eine Kunstausstellung mit der größtenteils kitschigen Kunst und den religiösen Ikonen aus dem Präsidentenpalast, der über ein riesiges Gelände, inklusive privatem Golfkurs, Zoo, Helikopterlandeplatz und anderen überaus notwendigen Dingen verfügte.

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Putin hat sich in den letzten Wochen zwar etwas kompromissbereiter gegeben, aber die Spannungen sind unvermindert hoch. Troitsky zitiert gerne Tschechow: „Wenn du im ersten Akt eine Waffe an der Wand hängen siehst, dann wird sie im dritten Akt auch benutzt werden.“ In anderen Worten: mit 40.000 russischen Soldaten an der Grenze stationiert, besteht die Gefahr einer Invasion—egal ob als „Friedenssicherung“ getarnt oder nicht—die einen größeren Krieg provozieren wird. Und die Zusammenstöße zwischen der neuen Regierung und den Separatisten im Osten, die von „freiwilligen Helfern“ aus Russland unterstützt werden, halten weiter an.

„Wir befinden uns bereits im Krieg“ sagt Oleh Skrypka, der neben seiner Tätigkeit in der Band Vopli Vidopliassova auch noch das Folkfestival Kraina Mrij (Land der Träume) in Kiew veranstaltet. Er sagt, dass ein Grund, die Russen zu bekämpfen, der ist, dass diese sich nicht einfach mit dem Osten zufrieden geben und bis nach Kiew vordringen werden. „Ich bin Sänger, aber wenn die Russen kommen, werde ich zu den Waffen greifen—jeder hier wird das“, sagt er mir. Er erzählte mir weiter von der tief ukrainischen und traditionell kosakischen Liebe zur Freiheit. Skrypka wurde in Tadschikistan geboren, hat aber—wie auch viele andere, die ich getroffen habe—gesagt, dass er „die existentielle Entscheidung getroffen hat, Ukrainer zu werden.“

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Dakha Brakha: „Kiew kann das Zentrum einer neuen Zivilisation werden.“

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Am nächsten Tag gehe ich mit Dakha Brakha, die auch beim diesjährigen WOMAD-Festival auftreten werden, zusammen zum Maidan. Einige der Barrikaden, vor denen die Dakh Daughters gesungen haben, sind immer noch da. Sie bestehen aus Sandsäcken, Straßenschildern, Autoreifen, Schuhen und diversen Trümmerteilen. Es leben noch immer nicht gerade wenige Obdachlose in Zelten auf dem Platz. Fotografien der „himmlischen Hundert“—die durch die Scharfschützen umkamen—schmücken die Mauern und als Zeichen des Respekts hatte die Band ihre lustigen Zylinder zu Hause gelassen, die für sie zu einem Markenzeichen geworden sind.

Neben dem ganzen Chaos und der lauernden Gefahr fand ich bei den meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, einen geradezu überraschenden Idealismus vor. Und es ist dort keineswegs so, wie es hier im westlichen Europa immer dargestellt wird, dass die eine Hälfte pro-EU und die andere pro-Russland ist. Viele Menschen denken, dass man besser ohne beide Seiten klarkommen würde. So wie Vlad Troitsky, der das genial-visionäre Rebellentum eines jungen Malcolm McLaren in sich trägt. Ich traf ihn vor ein paar Jahren und muss sagen, dass er eine wirklich starke Willenskraft hat: Bis zu einer schweren Erkrankung, die ihn vor einiger Zeit ereilte, schwamm er jeden Morgen im Dnepr, der durch Kiew fließt—auch wenn er dafür ein Loch ins Eis schlagen musste.

Troitksy gibt vergnügt zu, dass „wir kurz vor einem ökonomischen Zusammenbruch stehen, 40.000 russische Soldaten sind an unserer Grenze stationiert und im Osten herrschen Unruhen.“ Er glaubt aber andererseits auch tatsächlich daran, dass „Kiew das Zentrum eines neuen Gefühls sein kann, einer neuen Zivilisation.“ Für Troitksy ist Europa „eine müde, alte Kultur“ und Russland „hat diese Putingeschichte—Freiheit und echten Fortschritt gibt es dort nicht.“ Er glaubt, dass es möglich, wenn nicht gar dringend notwendig ist, eine transparentere, demokratischere und freiere Gesellschaft zu erschaffen, die zwischen Ost und West liegt und besser als beide ist. Es ist eine inspirierende Vision, die viele Musiker und Künstler teilen, die ich in Kiew getroffen habe—auch wenn sich ebenso viele fragen, ob sie im nächsten Winter noch Elektrizität haben werden.

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„War es gefährlich?“, fragten mich meine Freunde, als ich zurück bin. In einer illegalen Garage zu stehen und ukrainischen Techno von EVA-05 und anderen zu hören, war schon ein bisschen gruselig, da es überall nach Benzin roch, jeder rauchte und es nur einen einzigen Ausgang gab. Ich hatte außerdem eine Panikattacke, als das Auto, in das ich mich mit einer Handvoll Fremder setzte, mit Vollgas durch die Nacht gen Osten raste, bis wir dann 45 Minuten später eine Hausparty am äußersten Rand der Stadt in einem dieser beeindruckenden, brutalistischen Sowjetwohnblöcken erreichten.

Kiew wandelt sich. Die Luft ist erfüllt von diesem aufreizend-befreiendem Gefühl unendlicher Möglichkeiten und die aufstrebende Musikszene bietet dazu den passenden Soundtrack, der das inspirierende Potential der Stadt widerspiegelt. Gleichzeitig geistert einem aber auch dieses grauenvolle Gefühl durch den Hinterkopf, dass alles in einer furchtbaren Katastrophe enden wird.

Vor ein paar Jahren besuchte ich Aleppo in Syrien, das über eins der schönsten historischen Stadtzentren der Welt verfügte, und jetzt ist der ganze Ort fast dem Erdboden gleichgemacht. Wie William Wordsworth nach der französischen Revolution schrieb: „Glückseligkeit es war, in jener Zeit der Morgendämmerung zu leben, und noch jung dabei zu sein, war Himmel pur!“—und dieses nicht greifbare, postrevolutionäre Treiben im Kiew von Heute hat wahrlich das Potential, die Welt zu verändern.

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Peter Culshwas Buch Clandestino-In Search of Manu Chao ist vor kurzem bei Serpents Tail erschienen.

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