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Ein Requiem für Crystal Castles

Crystal Castles live zu sehen war wie zu sehen, wie sich ein Herz selbst selbst öffnet und mit Anarchie tauft.

Das erste Mal, als ich die Crystal Castles live sah, war 2007. Sie waren damals noch eine mysteriöse Vorband für die weitaus bekanntere Band Metrik. Ich war völlig neu in New York, und gerade mal seit ein paar Wochen in meinem ersten College-Jahr. Als die Lichter beim Konzert ausgingen, starrten im Publikum alle auf die Displays ihrer Klapphandys. Plötzlich wurde ein Sturm von Blitzlicht und verzerrtem Sound auf uns losgelassen. Jeder im Raum war förmlich gezwungen, den Blick von seinem Handy abzuwenden. Ich wusste es damals noch nicht, aber das, was ich nun sehen würde, sollte Wellen bis weit in meine Zukunft schlagen. Viele Jahre später konnte ich auf diesen Moment zurückblicken und sagen „Weißt du, das war der Moment, der alles verändert hat."

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Ein blasser Hauch von einem Mädchen betrat die Bühne und ergriff ein Megaphon. Für eine knappe Stunde brüllte sie nicht entzifferbare Texte in den Raum, untermalt von geisterhaften Keyboard- und kratzigen Synthesizer-Sounds, die von der schattenhaften Gestalt hinter ihr fabriziert wurden. Ihr Sound war elektronisch und aggressiv. Aber irgendwie auch eingänglich, auf seine eigene, verschrobene Art und Weise. Nichts desto trotz war es Welten von dem entfernt, was in der populären und elektronischen Musik im Trend war. Lasst uns nicht vergessen: Wir sprechen hier von der Zeit, in der der musikalische Hedonismus von den Klaxons, Crookers, Boys Noize oder Uffie regierte. Als die Crystal Castles begannen, das 8-Bit-Gepiepse von „Air War" zu spielen, klangen sie vielleicht für einen Kurzen Moment nach dieser Sorte von Lo-Fi-Partymusik—doch schon nach kurzer Zeit wuchs der Song mit seinen kindlichen, rauschenden Stimmfetzen zu etwas größerem heran. Mir war schnell klar: die Crystal Castles waren am Weg in eine Richtung, die viel eigenwilliger und bizarrer war, als irgendetwas, das ihre vermeintlichen Mitbewerber jemals gemacht hätten.

Alice Glass kletterte auf die Lautsprecher und vermittelte mit ihrem Kopfstimmen-Kauderwelsch mehr Verzweiflung, als es die meisten Sänger mit richtigen Wörtern vermögen. Ethan Kaths Produktionen lieferten immer den perfekten Gegenpart—egal ob sie schroff und brutal oder von melancholischer Schönheit waren. Ich blickte völlig gebannt zu Alice auf, ihr eindringliches Gejaule fraß mich komplett auf. Am Ende der Show wusste ich sicher, nicht ob ich sie flachlegen wollte. Aber ich wusste, dass ich sie liebte.

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Nach zehn Jahren, in denen sie einen unvergesslichen und bizarr-schönen Soundtrack unserer Generation gemacht haben, gab Alice Glass diese Woche auf Twitter (wo sonst) bekannt, dass die Crystal Castles von nun an Geschichte sind. Ihr erster Tweet kam direkt zum Punkt:

Der zweite war ein Statement, bei dem man eigentlich nicht gegenargumentieren kann.

Ihr dritter Tweet war einfach rätselhaft.

Aber sie beendete das ganze mit einer Notiz, die Hoffnung aufkeimen lässt.

Wer weiß, was wirklich zwischen ihr und Kath geschehen ist, dem Producer, den sie kennen gelernt hat, als sie gerade mal 15 Jahre alt war. Ich war deprimiert, aber nicht wirklich überrascht; die beiden hatten seit beinahe einem Jahr keine Show mehr miteinander gespielt. Und es gab keine News über einen neues Release, seit ihr letztes Album 2012 veröffentlicht wurde. Stattdessen hatten sie beide, völlig unabhängig voneinander, als DJs gespielt—Glass war unlängst zusammen mit dem Health-Gitarristen Jupiter Keyes, Mike Simonetti und Prince Terrency auf dem Atlantic's Imagine-Festival aufgetreten. Aber erst ihre Twitter-Botschaft signalisierte das fixe Ende ihrer 10 Jahre langen Zusammenarbeit—und für mich das Ende einer Ära.

Die Geschichte der Crystal Castles beginnt nicht in irgendeinem verrauchten Club oder einer Bar, sondern beim Sozialdienst. Glass und Kath wurden—für welche Vergehen ist nicht klar - von einem Gericht dazu verurteilt, Blinden Geschichten vorzulesen. Sie begannen miteinander darüber zu reden, dass sie das Gefühl hatten, niemand würde in der aktuellen Musikszene etwas wirklich neues produzieren. Glass war von zuhause ausgerissen und spielte in einer Female-Noise-Band mit dem grandiosen Namen Fetus Fatale. Kath war auch in einigen Bands in denen er Bass und Schlagzeug spielte. Sie entschlossen, sich zusammenzutun und „versuchen so gut es ging, einen neuen Sound und ein neues Genre zu kreieren", wie Kath es beschreibt. Sie schauten sich ihren Namen von einer Werbung für She-Ra-Actionfiguren ab, die auf der Female-Superhero Zeichentrickserie aus den 80ern basierten. „The fate of the wold is not safe in Crystal Castles. Crystal Castles ist he source of all power", so der Text des Werbejingles (Keiner der beiden hatte jemals auch nur eine einzige Folge der Serie gesehen.)

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Crystal Castles haben mir gezeigt, dass die beste Musik nicht unbedingt glatt poliert sein muss. Ihre erste Single „Alice Practice", war eigentlich sogar eine Art Fehler: Bei den Aufnahmen in einerm Studio in Toronto im Jahr 2004 nahm der Tontechniker heimlich Alice Mikrophon-Test auf. Wenn man genau hin hört, kann man sie am Anfang des Songs „Hi" sagen hören.

Außerdem haben mir Crystal Castles gezigt, dass Musik am dunkeln, schmutzigen Ende des Spektrums mehr sein kann als purer, bedeutungsloser Nihilismus. Trotz ihrer schwarzen Haare und ihrem ebensolchen Eyeliner haben sie nicht Goth „gespielt", um auf Fotos cool auszuschauen. Die Sängerin hätte dich vermutlich sogar verprügelt, wenn du sie #sadgirl genannt hättest. Sie haben sich sogar selbst „axe in the face of emo" genannt. Ihre Texte schrien stattdessen die Ungerechtigkeiten an und heraus, es war fast Punk-Poesie, und sie hatten nie Angst davor politisch zu sein. Das Cover ihrer letzten EP wurd auf einer Protestkundgebung im Yemen aufgenommen.

Alice Glass war einer der ersten feministischen Musikerinnen, die ich bewunderte, vor allem für ihre No-Bullshit-Attitüde gegenüber Misogynie. Während andere Künstlerinnen ihre Worte Vorsicht wählten, ging Alice hin und sagte Dinge wie „we need an army because the mainstream hates women". Sie griff sogar Katy Perry für ihr übersexualisiertes Image an. Genau genommen mit folgenden Worten: „Fucking Katy Perry spraying people with her fucking dick, her fucking cum gun coming on fucking children."

Aber das Wichtigste, das mit Crystal Castles gezeigt haben, war, das man gleichzeitig denken und tanzen kann. Das man ernst und grimmig gleichzeitig sein kann. Und dass man das Ganze mit Swag tun kann.