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Eine Ode an MySpace—als Emos noch Emos, Tom dein bester Freund und Skrillex noch nicht Skrillex war

Es war die Ära der Von-oben-Selfies, schwarzumrandeter Augen, Snake-Bite-Piercings und Aiden T-Shirts.
Emma Garland
London, GB

In einer alternativen Realität, in der ich viel cooler und gebildeter bin, würde ich bestimmt sagen können, dass der Songtext, der meine Pubertät am besten zusammenfasst, aus einem Song von Leonard Cohen oder Bikini Kill stammt.

In dieser wirklichen Realität aber, in der ich ein hoffnungsloser Millennial bin, der Freundschaften erst nach mehreren Wochen Online-Kommunikation aufbauen kann, stammt die Textzeile, die meine Pubertät am treffendsten zusammenfasst, aus dem Song „Sic Transit Gloria“ von Brand New: „Die young and save yourself“—ein lächerlich-theatralisches Statement, das vielleicht nie von irgendjemandem ernstgenommen worden wäre, wäre es nicht auf das Wohlwollen einer ganz bestimmten Subkultur gestoßen, die wiederum ohne ein gewisses soziales Online-Netzwerk wahrscheinlich nie dermaßen aufgeblüht wäre.

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2004 freundeten sich Millionen Internetnutzer auf der ganzen Welt mit einem gewissen „Tom“ an. Jener Tom (Familienname „Anderson“)—dessen pixeliges Profilbild wahrscheinlich öfter angeschaut wurde als die Mona Lisa—hatte ein Social Media-Imperium aufgebaut, das zwei der größten kulturellen Triebfedern miteinander vereinte: junge Menschen und Musik. Dieses Imperium nannte sich MySpace und es war so prägend für meine Pubertät wie Hautprobleme, öffentliches Rumknutschen und My Chemical Romance.

Screenshot von PCWorld.com

Wenn wir über das „Emo-Revival“ sprechen, dann sprechen wir eigentlich immer nur über eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Sound. Dann geht es um American Football, Mineral, Braid und verwandte 90er-Jahre Musiker aus dem mittleren Westen der USA, die die Inspiration für eine weitere Welle grüblerisch-weinerlicher Bands lieferten, die dann in den 2010ern einen großen Aufwind erfuhren. Aus irgendeinem Grund spricht allerdings kaum jemand darüber, dass zwischen diesen beiden Phasen auch noch die 00er passiert sind.

Nicht nur waren die 00er das Jahrzehnt, in dem jeder Musikvideoregisseur die Kontrasteinstellungen für sich entdeckt hatte und damit total durchgedreht war, das Jahrzehnt war außerdem noch mitverantwortlich dafür, eine melodramatische Fusion aus Elementen des Midwestern Emo, Hardcore Punk und Pop ins Leben zu rufen, die dann zu Emo 2.0 werden sollte. Emo 2.0 ist Emo in seiner denkbar kommerziellsten Form. Emo 2.0 zeichnet sich durch gespielte Bisexualität, Seitenscheitel, die selbst die britische Sängerin Gabrielle als übertrieben bezeichnen würde, und Songtitel aus, die eine autogenerierte Kombination aus aggressives Verb + Art von Make-Up + Mädchenname zu sein schienen. Wenn du den Begriff „Emo“ in die Google-Bildersuche eingibst, stößt du auf unzählige Von-oben-Selfies von Teenagern mit schwarzumrandeten Augen, Snake-Bite-Piercings und Aiden T-Shirts.

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Die frühen 00er waren die goldene Ära, in der Mitglieder von My Chemical Romance, Taking Back Sunday und Brand New mit der gleichen Hingabe verehrt wurden, wie sie typischerweise nur männlichen Popstars oder Jared Leto (bevor er Popstar wurde) vorbehalten war. Es war die Zeit, bevor sich Conor Oberst dem Country zuwendete, bevor Dallas Green in Singer-Songwriter-Gefilde abdriftete und bevor Skrillex Skrillex wurde—der war damals nämlich noch ein 16 Jahre alter Teenager namens Sonny Moore und sah so aus. Es war eine Zeit, in der Epitaph Records noch relevant waren—Geschlechtszugehörigkeiten hingegen nicht, denn alle hatten den gleichen David-Bowie-in-Labyrinth-Gedächtnis-Haarschnitt, trugen viel zu viel Eyeliner, kauften ihre Hoodies bei H&M und ihre Skinny Jeans in der Mädchenabteilung.

Ein Porträt der Autorin als junger Emo

Zwischen 2004 und 2009, bevor die digitale Massenmigration zu Facebook begann, befand sich MySpace im Epizentrum jedes Teenager-Cyber-Universums. Aus heutiger Sicht mag das vielleicht trivial erscheinen—schließlich sind wir seit über einem Jahrzehnt in sozialen Netzwerken aktiv und die Kultur des „Kommentierens“ ist zu einem so integralen Bestandteil unseres Alltags geworden wie unser Morgenkaffee und das Onanieren an dafür denkbar ungeeigneten Orten—aber man darf nicht vergessen, dass das in den frühen 00er Jahren noch alles unglaublich neu und aufregend war.

Zum ersten Mal konntest du dir deine eigene Identität erstellen (was in der Regel beinhaltete, seinen Namen um eine Alliteration im Stile von „Chaos“ oder „Slaughter“ zu ergänzen). Du konntest, auf der Grundlage eines ähnlichen Musikgeschmacks und eines tiefsitzenden Neids auf die Extensions deines Gegenübers, langanhaltende Freundschaften aufbauen. Und vor allem konntest du deine Lieblingsbands anschreiben und du wusstest, dass sie deine Nachricht auch sehen würden. Es war die einfachste und direkteste Künstler-Fan-Interaktion, die man haben konnte—abgesehen davon, sechs Stunden vor Showbeginn am Hintereingang der Konzerthalle rumzulungern, nur damit man jedem, der ein Instrument trägt, ein „I LOVE YOU“ hinterher rufen kann. Die generalisierten Formatierungsmöglichkeiten von MySpace bedeuteten außerdem, dass Künstler die Seite genau so wie ihre Fans benutzten. Plötzlich waren alle gleich erreichbar.

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2006 veröffentlichte Jupiter Research einen Bericht, der aufzeigte, dass MySpace mehr musikrelevante Aktivitäten als jede andere musikrelevante Webseite generierte—und 75,9 Millionen Unique Visits pro Monat, die die Seite zu ihrer Hochphase 2008 erreichte, sprechen eine deutliche Sprache. R.E.M. verwendeten MySpace als Plattform zur Veröffentlichung von Around The Sun. Crystal Castles schafften es dank MySpace, eine komplette Karriere basierend auf einem einzigen Demo in Gang zu setzen und Billy Bragg konnte MySpace auf den Tod nicht leiden.

Keine Frage, MySpace hatte alle Attribute einer erfolgreichen Musikplattform. Der wirkliche Aufstieg des sozialen Netzwerks geschah allerdings fast zeitgleich mit dem Aufstieg des Mainstream-Emos, woraus dann ein Amalgam entstehen sollte, das erst wieder zerbrach, als sich die Szene nicht mehr in der gleichen Geschwindigkeit weiterentwickeln konnte wie die digitale Generation, die sie hervorgerufen hatte. MySpace übte einen so großen Einfluss auf die Popkultur aus, dass selbst eine Frisur danach benannt wurde. Seitdem ist nichts Vergleichbares mehr passiert, oder kann sich jemand vorstellen, dass so etwas wie „Twitter Hair“ entsteht? Als MySpace zunehmende gesellschaftliche Relevanz bekam, tat dies auch die Beziehung zwischen Künstlern und Fans.

Neuere Plattformen wie SoundCloud und BandCamp bieten im Endeffekt die gleichen Streaming- und Entdeckungsmöglichkeiten wie MySpace, aber Künstler haben dort viel weniger Möglichkeiten, ihre Seiten zu personalisieren. Man kann keine Bilder hochladen, Blogeinträge posten oder direkt mit den Fans interagieren. Im Großen und Ganzen sind die Internetauftritte dort relativ gesichtslos. Twitter und Facebook füllen diese Lücke zwar, aber das Resultat bleibt fragmentarisch. Bei einem Netzwerk hören wir Musik, bei dem anderen erfahren wir mehr über die Künstler und bei dem nächsten können wir sie dann anschreiben.

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Aus Konsumentensicht hat sich auch einiges geändert. Wir haben keinen „Profilsong“ mehr, um auf unsere aktuelle Gemütslage hinzuweisen, genau so wenig können wir unseren Lieblingskünstlern im Top 8-Format zeigen, wie wichtig sie uns sind. Natürlich gibt es jetzt auch (andere) Möglichkeiten allen mitzuteilen, was einem „gefällt“, aber auch diese Information wird nicht übersichtlich an einem Ort gesammelt. Wir sehen uns, was Musik angeht, allerdings auch einem derartigen Überangebot ausgesetzt, dass unsere Hörgewohnheiten an Beständigkeit verloren haben. Einer der Gründe, warum der „Profilsong“ nicht mehr existiert, ist der, dass die Meisten von uns ihn alle 30 Minuten ändern müssten. Warum sich also die ganze Mühe machen, wenn du einfach einen Mix bei SoundCloud reposten kannst?

MySpace erreicht immer noch jeden Monat 50 Millionen Menschen (OK, Stand Januar 2015), aber für die meisten Menschen in meinem Alter gehört die Seite gefühlsmäßig so sehr der Vergangenheit an wie KaZaa, AOL-CDs und sich seinen Magen auspumpen lassen. Vielleicht werden wir eines Tages dorthin zurückkehren—ähnlich, wie wir manchmal Freundschaften zu Menschen aufbauen, mit denen wir vor Jahren mal zusammen gewesen waren. Aber es würde eine total andere Beziehung sein: Die Unschuld wäre verflogen; überall Erinnerungen daran, wie es mal gewesen war, und die ganzen Songs, die man mit der gemeinsamen Zeit verbindet, werden nicht mehr die gleichen Gefühle in einem auslösen. Das heißt aber nicht, dass diese Dinge ihre Signifikanz verloren haben. Es ist gar nicht so lange her, dass ich Brand New zum mittlerweile fünften Mal live gesehen habe, und ich kann bestätigen, dass ein Raum voller Mittzwanziger durchaus noch „Die young und save yourself“ mitsingen kann und wird—und das mit genau so viel Überzeugung wie noch vor zwölf Jahren, wenn nicht sogar mehr.

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