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Die VMAs sind der Beweis, dass Amerika innerlich tot ist

Die VMAs sind nur ein weiterer Beweis für den nicht enden wollenden kulturellen Abstieg der amerikanischen Gesellschaft—und der kompletten westlichen Hemisphäre mit ihr.

Als Institution sind die VMAs längst überflüssig. Niemanden interessiert, wer gewinnt, ganz abgesehen davon, dass es eh nur dem Anschein nach um Auszeichnungen für Musikvideos geht, denn am Ende erhalten nicht die Regisseure die Preise, sondern die Künstler. Der Event ist reines Spektakel, der verkümmerte Wurmfortsatz einer Fernsehsendung, die uns an eine längst vergessene Ära erinnert, als MTV tatsächlich noch Musikvideos ausstrahlte und so etwas wie popkulturelle Relevanz inne hatte. Die VMAs sind eine ausgedehnte Super-Bowl-Halbzeitshow, unterbrochen nur von ebenso ausgedehnten Werbepausen. Die VMAs sind dekadent und verdorben und—wie alles andere auf MTV auch—ernsthaft schlecht für die Menschheit.

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Egal. Die VMAs fanden in der Nacht zu Montag statt und auch wenn ihr sie nicht live gestreamt oder unseren Artikel darüber gelesen habt, wisst ihr inzwischen dass sie es tatsächlich schafften, einen Tag lang die Aufmerksamkeit der halben Welt zu fesseln. Allerdings eben so, wie du nicht wegschauen kannst, wenn irgendwo ein fieser Unfall passiert, mit dieser Mischung aus Schock, Ekel und—in diesem Falle—Fremdscham. Manche Momente waren groß, manche entsetzlich und andere waren absolute Reinfälle. Katy Perry, ich rede mit dir.

Interessanter als die Auftritte waren die unabsichtlich gezeigten Momente kurz vor den Werbe-Unterbrechungen: Drake, der die ganze Zeit grimmig vor sich hinblickt, Rihanna, die völlig desinteressiert schien, One Direction, die aussahen wie Möchtegern-*NSync und dieses eine Mal, wo man sehen konnte, wie Taylor Swift Selena Gomez während des One-Direction-Auftritts „Shut the fuck up!“ zurief. Nicht zu erwähnen, wie Taylor Swift tanzte, was ziemlich beeindruckend war. Wie eigentlich die Tänze von jedem, bis auf Miley Cyrus, leider.

(GIF via BuzzFeed)

Der wahrscheinlich am ungeduldigsten erwartete Moment des Abends kam früh, als Miley Cyrus „We Can‘t Stop“ aufführte, das in den Auftritt von Robin Thicke mit „Blurred Lines“ überblendete, was dann irgendwie in eine Art Trockenporno überblendete, in dem sie sich an Thicke rieb, während er krampfhaft versuchte, einen Moment noch größerer Peinlichkeit zu vermeiden. Dieser Teil war bewusst höchst kontrovers angelegt, aber am Ende blieben wir mit nichts weiter zurück als einem peinlichen Rumgereibe und einer Performance, die weder irgendwie gut noch wirklich schockierend war. Sondern im Grunde nur lächerlich. Es war nicht nur Mileys Twerking, sondern auch die Gegenüberstellung von ihrer Jugend und Thickes Altersschwäche (er ist 36 Jahre alt, was in Bezug auf Popmusik heißt, dass er im Grunde längst tot ist), seinem angedeuteten Kugelbauch und seiner Kleiderwahl, die, nett ausgedrückt, ein gestreifter Griff ins Klo war: Blurred Lines, ja sicher, aber nur, weil man keine Ahnung hatte, wofür die beiden überhaupt stehen.

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Auffallend war die Nicht-Anwesenheit von Justin Bieber, der einen Auftritt für einen ähnlichen Imagewandel hätte nutzen können, wie Miley Cyrus. Stattdessen hing sein Manager Scooter Braun mit Austin Mahone ab, der offensichtlich so etwas wie eine Lebensversicherung für Braun ist, falls Bieber sich irgendwann zu Tode kifft.

Justin Timberlake hat seine schier unendliche Performance als Möglichkeit genutzt, die Geschichte der Popmusik zu seinen Gunsten umzuschreiben, indem er sich zum Erfinder von so ziemlich jedem Style und Trend machte, der heute in ist. Der Gig endete in einer *NSync-Reunion, die sogar noch belangloser war als die Destiny‘s-Child-Reunion beim Super Bowl Anfang des Jahres. Joey Fatone ist inzwischen vermutlich durch die Anstrengung verstorben und falls nicht, hat Chris Kirkpatrick längst gezeigt, dass er innerlich tot ist.

Get More: 2013 VMA, Artists.MTV, Music

Der große Gewinner des Abends war Macklemore, der gemeinsam mit seinem Produzenten Ryan Lewis zwei Awards gewann und seine Schwulenhymne „Same Love“ mit einer Hook von der lesbischen Sängerin Mary Lambert peformte. Lamberts Part, soulig und durchdacht, war auf jeden Fall der beste Teil an dem Song. Als das Duo den Award für „Best Video with a Social Message“ gewonnen hatte, ging sie mit ihnen auf die Bühne, um den Award entgegenzunehmen. Trotz ihrem Beitrag an dem Song, sowohl symbolisch als auch musikalisch, bekam sie bei der Preisübergabe keine Gelegenheit, etwas zu sagen. Stattdessen klopfte sich Macklemore selbst auf die Schulter, bezeichnete „Same Love“ als das wichtigste Lied, das er je geschrieben hat, und erklärte, dass Schwulenrechte Menschenrechte seien. Zwar war seine Message bewundernswert, aber denkt mal darüber nach, wie bedeutend dieser Moment hätte sein können, wenn Lambert selbst diese Rede gehalten hätte oder wenn Macklemore den Moment ihr überlassen hätte. Das hat er aber nicht.

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Im Pop, wo unendlich viel Platz für unendlich viele Stimmen ist, muss ein heterosexueller weißer Typ, auch wenn er die Möglichkeit hat für soziale Gerechtigkeit einzutreten, nicht unbedingt einer weniger privilegierten Person die Gelegenheit zu sprechen wegnehmen. Dennoch zeigt die Tatsache, dass Lambert auf der Bühne stand, ohne die Gelegenheit bekommen, etwas zu sagen, was grundsätzlich frustrierend an der Existenz von Macklemore ist: Er scheint eine Stimme für diejenigen sein zu wollen, die ihn nicht darum gebeten haben, ihre Stimme zu sein. Er ist der Erfüllung des White-Knight-Prototypen, der auf seinem hohen Ross (gespielt von Ryan Lewis) hinein reitet, um den Tag zu retten, der eigentlich ganz gut verlief.

Hör dir die erste Zeile von „Same Love“ an, in der Macklemore rappt: „When I was in third grade / I thought I was gay.“ Danach erklärt er, dass er aber doch nicht schwul ist. Es ist eine taktische Äußerung auf eine der meistgenutzten Tropen im HipHop, der „No Homo“-Redewendung, jedoch verdreht, um der sozialen Gerechtigkeit zu dienen. Es ist ja nicht falsch, den Song zu mögen, Macklemore hat auch nichts dabei falsch gemacht, den Song herauszubringen, er zeigt nur eine bestimmte Weise von Macklemore zu denken: Er kann sich für Schwulenrechte stark machen, aber erst nachdem er der HipHop-Welt klargemacht hat, dass er nicht schwul ist. Es ist mehr als nur ein wenig unaufrichtig und sagt viel weniger aus, als wenn Macklemore einen schwulen Rapper als Featuregast für den Song eingeladen hätte und ihn seine eigenen Probleme aufarbeiten lassen hätte. Es ist einfach, einen Song zu machen, der die Schwulenrechte verteidigt und Homophobie im HipHop zu behandeln, wenn die eigenen Heterosexualität einen schon von dem Konflikt befreit hat, dem jemand gegenübersteht, sowohl öffentlich als auch stillschweigend, sobald er öffentlich erklärt hat, dass er nicht 100% hetero ist.

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Es ist wichtig, daran zu denken, dass bevor er auf dem Cover des Rolling Stone war, bereits drei Nummer-Eins-Hits hatte und der wohl größte Rapper des Landes war, indem er diejenigen ansprach, die nicht unbedingt auf Rap stehen. Macklemore war nur ein weiterer idiotischer, harmloser Rapper aus Seattle, der wie eine Kopie der Kopie von Slug aus Atmosphere klang und über „real shit“ rappte, was auch immer das bedeuten sollte. Der erste Track seines Albums The Language of My World hieß „White Privilege“. Er rappt: „And we don't want to admit that this is existing / So scared to acknowledge the benefits of our white privilege.“ Vielleicht sollte Macklemore nochmal zurück zu dem Song gehen und die Vorteile seines Privilegs von jedem denkbaren Winkel aus beurteilen. Taten sprechen klarer als Worte und es wäre ein deutliches Zeichen dafür, dass Macklemore auch wirklich an die Botschaft, die er verkündet, glaubt, wenn er seine Bekanntheit dazu nutzen würde, andere zu Wort kommen zu lassen, anstatt nur für sie zu sprechen.

Obwohl er natürlich ein leichtes Ziel ist, ist Macklemore eher ein Symptom als eine Ursache für die seltsame Konservativen-Bank auf den VMAs 2013. Es sagt viel aus, dass nur drei farbige Performer—Bruno Mars, Janelle Monae und Erykah Badu—Preise gewonnen haben. Diese Tatsache gewinnt sogar noch mehr an Bedeutung, wenn man bedenkt, dass dieses Jahr das 30. Jubiläum der VMAs war. Im ersten Jahr der Verleihung, vor 30 Jahren, wurden mehr Preise an Farbige verliehen als in diesem Jahr. Da tatsächliches Musikprogramm nur selten auf MTV ist, sind die VMAs auf viele Weisen die jährliche State of the Union Address für die Zuschauer. Wenn man das bedenkt, ist es wichtig, dass MTV als Institution die Auswirkungen ihrer Programmentscheidungen bedenkt.

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Während es ein paar Strecken an Kreativität gab—zum Beispiel war ein besonderes Highlight, als Drake sein bald erscheinendes Nothing Was the Same-Cover für „Hold On, We're Going Home“ nachstellte—und zu meinem Trotz—wie Kanye West „Blood on the Leaves“ performte—vollzog sich der aussagekräftigste Moment des Abends, als während der Ankündigung des offen schwulen Basketballspielers Jason Collins zur Performance von „Same Love“ von Macklemore und Ryan Lewis, A$AP die Gelegenheit ergriff, die neue A$AP Ferg-Platte Trap Lord anzuspielen. Der Vorfall zeigte die unschöne Wahrheit, dass egal, ob sich die VMAs nach vorne oder zurück bewegen, es immer nur um das schnelle Geld gehen wird.

Daran krankt Amerika und mit ihm die ganze westliche Welt.

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