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Deichkind ist vermutlich die punkigste Punkband Deutschlands

„Kein Gott, kein Staat, lieber was zu saufen“—kaum eine Band in Deutschland war je so punkig wie Deichkind.

Foto © Universal Music

Habt ihr schon mal auf einer Party/einer Großraumdisko/einer Bar haufenweise besoffene, oberkörperfreie Proleten Arm in Arm, laut grölend zu „Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)“ tanzen gesehen und euch fremdverschämt abgewendet? Euch geschworen, nie wieder zu Deichkind zu tanzen und die Existenz dieser Jägermeister-saufenden, muskulösen Dorfproleten anziehenden Scheißband schlicht zu vergessen? Falls ja, geht es euch wie mir.

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Ich war Deichkind-Fan, als sie noch Rap machten, ich habe die ersten Remmi-Demmi-Konzerte erlebt (und war begeistert!) und den folgenden kommerziellen Aufstieg als intellektuellen Abstieg wahrgenommen. Vor allem, was die Fans bei den Deichkind-Konzerten angeht, die zunehmend zum Saufen kamen und nicht wegen der Musik. Trotzdem hat mich Deichkind nie ganz losgelassen. Ich weiß selbst nicht genau, woran das liegt, denn die Musik geht mir heute in erster Linie auf den Sack. Aber irgendwie ist die Idee, die dieser Band zugrunde liegt, genial. Deichkind ist durch und durch Punk. Das gilt für die Texte, die Konzerte, die politische Einstellung und irgendwie gilt es auch für die mir auf den Sack gehenden billigen Jahrmarkt-Beats.

Ich versuche das mal zu erklären:

Das Saufen/Drogen/Feiern/Kotzen

Saufen, Drogen und feiern bis zum Exzess waren schon immer Teil ein extrem wichtiger Teil von Punk—ein verdammt einfacher Weg, das Bürgertum, die Eltern und die Gesellschaft im Allgemeinen zu schocken und dabei auch noch Spaß zu haben. Kein Genre, das so viele Sauflieder unter seinem Dach vereint, wie der Punk. Deichkind sind Meister des Saufliedes. Man kann sich nun fragen, ob es cool ist, dass sie Deals mit großen Getränkemittel-Unternehmen eingehen, aber wenn am Ende ein Song wie „Prost“ und die Erfindung der „Zitze“ dabei herauskommen, ist das die Vollendung von Punk.

Der Bruch mit allen Konventionen

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Deichkind sind als HipHopper bekannt geworden und dank Songs wie „Bon Voyage“ oder „Komm schon“ zählen sie definitiv nicht zum Schlechtesten, was Rapdeutschland in seiner Geschichte so hervorgebracht hat. Aber statt euch weiter mit dem Kopf nicken zu lassen, erfanden sie sich schon auf dem zweiten Album Noch 5 Minuten, Mutti! neu, deutlich zu erkennen in den Songs „Limit“ und „Electric Super Dance Band“. Das Folge-Album Aufstand im Schlaraffenland war dann der endgültige Bruch mit Rap, euren Erwartungen und überhaupt allen Konventionen, musikalisch und textlich. Natürlich ist der Partyhit „Remmi Demmi (Yippie Yippie Yeah)“ aus der Sicht von 2014 ziemlich ausgelutscht, aber der Text, der vom größten Partycrash in der Geschichte der Musik handelt, ist nach wie vor höchst genial.

Die in Dummheit getarnte Intelligenz

Was könnte punkiger sein, als klügste Aussagen im Subtext dümmster Aussagen zu verstecken? Was ist punkiger als Formatradios, die im Tagesprogramm „Leider geil“ auf Rotation spielen oder Tausende im Alltag stumpf funktionierende Angestellte auf Konzerten „Arbeit nervt“ schreien zu lassen? Durch die stumpfen Beats und die Mitgröl-Parolen wirken viele Deichkind-Songs dumpf, sind aber eigentlich extrem intelligent—die Kritik am Arbeitsalltag Millionen Deutscher, inklusive Lohndumping, steigendem Druck, Armutsschere, Bruttosozialprodukt, Profithörigkeit und, und, und in „Bück dich hoch“ ist politischer und klüger als jedes Gewerkschafts-Pamphlet. Der Text von „Leider Geil“ führt dem Unterschichten-Proletariat gnadenlos ironisch den Spiegel vor und „Remmi Demmi (Yippie Yippie Yeah)“ zerrüttet deine bürgerliche Existenz.

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Die Sozialkritik

Politik war schon immer Teil von Punk, auch wenn es Punkbands gibt, die sich bewusst unpolitisch geben. Die besten Punker waren immer die, die Kritik am bestehenden System übten. Deichkind kommen bekanntermaßen aus einer stark linkspolitisch geprägten Hamburger Szene, und äußern sich in ihrer Musik viel politischer, als es ihr Ruf besagt. Aktuell gibt es kaum eine kommerziell erfolgreiche Band mit so vielen politischen Songs wie Deichkind—von „Arbeit Nervt“ über „Illegale Fans“ zu „Bück dich Hoch“ oder „Ich habe eine Fahne“, ist die halbe Diskografie von Sozialkritik geprägt.

Selbst ein komplett dumpfer Saufsong wie „Hört ihr die Signale“ ist mit Lyrics wie diesen politisch aufgeladen: „Bullen, Bonzen, Banken, alle müssen tanken, denn kein Mensch ist illegal, schon gar nicht, wenn er breit ist“, womit wir wieder beim vorherigen Punkt sind—dem verstecken von Klugheit hinter Dummheit. Am wenigsten versteckt und vielleicht am ernst gemeintesten sind die politischen Parolen im Song „Krieg“ aus dem Jahr 2006: „Wir ziehen in den Krieg, unsere Waffe ist Musik, weil es in unseren Händen liegt, diese Welt zu verändern.“

Der komplette Abriss

Wer war schon mal auf einem Deichkind-Konzert? Wer hat die Jungs schon mal auf einem Festival erlebt? Deichkind reißt schon seit vielen Jahren alles ab, wo sie auf der Bühne stehen. Entwickelt wurde das Live-Konzept, für das Deichkind berühmt geworden sind, Ende 2005/Anfang 2006. Damals erwarteten die meisten noch, ein Kopfnicker-HipHop-Konzert zu erleben, wenn sie zu Deichkind gingen. Diese Erwartung wurde dann innerhalb von kürzester Zeit enttäuscht und ins Gegenteil gekehrt. Trotzdem dürfte es nicht viele gegeben haben, die enttäuscht den Ort des Geschehens verlassen haben—denn einen größeren Euphorie- und Adrenalinschub als bei einem Deichkind-Konzert war schlicht unmöglich zu bekommen. Der Auftritt bei aufgehender Sonne auf der Hauptbühne des Melt 2006 ist bis heute legendär.

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Die eigentliche Kunst ist allerdings, dass Deichkind-Konzerte noch immer der totale Abriss sind, obwohl die Grundidee (inkl. Verkleidungen, Schlauchbooten und Flaggen) nun schon acht Jahre alt ist und zwar vollkommen unabhängig von der Konzertgröße: Deichkind sprengen Clubs mit 100 Anwesenden genauso sehr in die Luft, wie Festivals mit 60.000. Nennt mir eine Punkband, die es damit aufnehmen kann.

Der WM-Song

Wir haben hier schon einen Artikel veröffentlicht, indem es einzig darum ging, wie scheiße ohne Ausnahme alle WM-Songs sind. Nun, Deichkind haben uns mit ihrem Song „Ich habe eine Fahne“ Lügen gestraft. Völlig egal, was man musikalisch von diesem Song hält, er ist purer Punk. Deichkind teilen in alle Richtungen aus—FIFA, die in Schland-Flaggen eingehüllten Eventnationalen, die großkapitalistischen Unternehmen wie McDonalds und deren Werbeträger, Fleisch verschlingende Grillfanatiker, Diktatoren, Deutschland, Sportjournalisten, Steuersünder und eigentlich alles, was nur im Entferntesten mit Fußball zu tun hat. Ein großer Stinkefinger an alle. Fuck You All!

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